Wachstum mach Krach
- Jeannette Kriesel
- 14. Juni
- 4 Min. Lesezeit
Von Kinderlärm der triggert und Kindern, die einfach nicht leise wachsen können. Warum Wachstum Krach macht

„Kinder sind laut, weil sie leben. Und lebendig sein ist kein Erziehungsfehler, sondern ein Entwicklungsstadium.“ Jeannette Kriesel
Einer gegen 10
Neulich früh saß ich bei einem meiner kleinen Diabetes-Kids für die Insulinversorgung in der Kita. Frühstückszeit. Zehn Kinder plauderten fröhlich durcheinander, erzählten sich begeistert, was sie am Vortag erlebt hatten. Lebendig, laut, voller Leben. Ich hörte interessiert zu. Bis der Erzieher den Stecker zog: „Leise sein! Heute ist Flüsterfrühstück.“ Ich nehme es mal vorweg: Dort ist jeden Tag Flüsterfrühstück.
Da setzt sich also ein Erwachsener über die Bedürfnisse von zehn Kindern hinweg, weil ihm zehn Stimmen zu viel sind. Und ich fragte mich: Warum fällt es uns Großen eigentlich so schwer, kindliche Lautstärke auszuhalten? Warum empfinden wir Lebendigkeit als Störung? Und warum schaffen es Kinder einfach nicht, dauerhaft leise zu sein?
Kinder sind keine Radios mit Lautstärkeregler
Klingt banal, ist aber zentral: Kinder haben ein unreifes Nervensystem. Insbesondere der präfrontale Kortex, also der Teil im Gehirn, der für Impulskontrolle, Selbstregulation, Rücksicht & Co. zuständig ist, wächst noch. Und zwar noch lange. Bis zum mindestens 20. Lebensjahr. Und selbst dann ist er noch eher weiche Butter als stabile Schaltzentrale. Wenn wir also von einem Kind erwarten, dass es sich „ruhig verhält“, dann erwarten wir etwas, wozu es biologisch einfach noch nicht in der Lage ist.
Laut = gesund
Laut sein ist kein faktisch lösbares Problem. Es ist ein Beweis dafür, dass das System läuft. Kinder hängen mit ihren Gedanken nicht irgendwo in der Zukunft herum, sondern sind im Hier und Jetzt verankert, mit Haut, Haaren und Kehlkopf. Laut sein ist ein Ausdruck von Kraft, Forschergeist, Selbstwirksamkeit und Beziehung. Sie drücken sich aus, mit Stimme, Bewegung und einer Lebenslust, die ich bei manch Erwachsenen vergeblich suche. Man stelle sich einen Welpen vor, der den ganzen Tag still im Körbchen liegt, niemanden anspringt und ankläfft. Da wären sich wohl alle einig: Da stimmt was nicht. Bei Kindern sagen wir: Sehr vorbildlich!
„Sei leise!“, sagt mehr über dich als über das Kind
Wenn Erwachsene Kindern beibringen wollen, leise zu sein, geht es in Wahrheit oft gar nicht um das Kind, sondern um die Erwachsenen. Genau genommen, um ihre Überforderung. Denn Lautstärke, Chaos, Unvorhersehbarkeit sind für viele Menschen schwer auszuhalten, weil sie die eigene Unruhe, den Kontrollverlust und der Stress an die Oberfläche drücken. Statt also die eigene Regulation zu stärken, will man das Kind kontrollieren. Dabei zeigt die Erfahrung doch immer wieder: Das klappt nicht. Denn Kinder haben ein inneres Bedürfnis, das brüllt: „Ich bin da! Ich will was erleben!“
Kita-Stille ist eine pädagogische Illusion
In vielen Einrichtungen wird mit dem Leise-sein wie mit einer Währung gehandelt. Wer laut ist, fällt negativ auf und wird sanktioniert, wer leise ist, wird gelobt und erhält Privilegien. Doch was, wenn die „leisen“ Kinder einfach nur unsicher, ängstlich oder überangepasst sind? Man ahnt, welche Glaubensätze sich da im System der Kinder festigen.
Und was, wenn die Rahmenbedingungen für Ruhe schlicht nicht stimmen? Denn mal ehrlich, wie oft versuchen Erzieher und Lehrkräfte, Stille herzustellen, obwohl die Umgebung (Gruppengröße, Raumakustik, Tagesverlauf) das überhaupt nicht hergibt? Es gibt keinen anderen Satz, den ich tagtäglich in Schulen und Kitas öfter höre als diesen: „Jetzt seid still! Ihr seid mir zu laut.“ Gruppenlärm mit Disziplin zu bekämpfen ist wie Festival mit Flüstern -vollkommen bescheuert.
Beziehung statt Regel, Haltung statt Regelwerk
Kinder hören nicht auf Worte. Sie hören auf Menschen. Und wenn eine vertraute, verbundene Bezugsperson sagt: „Psst, hier flüstern wir, weil da gerade jemand schläft“, statt „Jetzt sei endlich ruhig!“, dann klappt das oft erstaunlich gut. Nicht wegen der Regel, sondern wegen der Beziehung.
Kinder lernen nicht durch Appelle an ihr Gewissen, indem man sie täglich mit dem immer gleichen Gelaber vollblubbert, sondern durch erlebte Resonanz. Wenn sie spüren, dass ihre Energie willkommen ist und gleichzeitig klar ist, wann sie wo und wie gebraucht wird, dann lernen sie, sich zu regulieren. Und regulieren lernen Kinder durch Verbundenheit, nicht durch Rüge. Kinder folgen nämlich viel eher, wenn sie verstehen, warum.
Warum Kinder nicht leise sind?
Weil sie gesund sind. Weil sie lebendig sind. Weil sie es noch nicht können. Und weil unser Bedürfnis nach Ruhe oft lauter schreit als ihr ganz natürlicher Impuls, die Welt mit allen Sinnen zu erfahren.
Was es bräuchte? Weniger Appelle an das Kind. Mehr Verständnis für das Nervensystem. Und ein bisschen mehr Mut zur Unordnung. Kinder lassen sich nicht „leise erziehen“. Wir müssen ihnen Raum geben, lebendig sein zu dürfen, können ihnen aber zeigen, wo diese Lautstärke hingehört und wie diese Energie gut aufgehoben ist. Kindliche Lautstärke ist kein Problem, das sich wegpädagogisieren lässt. Sie ist Leben. Sie ist ein Ruf. Nach Kontakt, nach einem Platz in der Welt. Sie ist Wachstum. Und Wachstum macht eben... KRACH. Wachstum mach Krach
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