Ein Gedicht, ein Lied, ein Trauma
- Jeannette Kriesel
- 15. Juni
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Juli
Ein Liedchen singen, ein Gedicht vortragen. Glücksmomente oder Kollektivtrauma?

„Wer Kindern beibringt, dass Mut bedeutet, sich selbst zu verraten, wundert sich später über stumpfe Seelen und leere Augen.“ Jeannette Kriesel
Wisst ihr noch, wie das damals war, vor der Klasse ein Gedicht aufsagen zu müssen? Zum Davonlaufen, oder? Schlimmer noch: allein ein Lied vorsingen. Für die meisten war das damals eine unfassbar beschissene Angelegenheit und wir sind froh, dass die eigene Schulzeit hinter uns liegt. Aber unsere Kinder machen jetzt den gleichen Scheiß durch, an den wir uns mit Grauen zurückerinnern. „Das ist pädagogisch wertvoll“, sagt die Schule. „Hab dich nicht so! Wir haben das auch überlebt“, sagen Eltern. „Überlebt“, echt jetzt? Soll das etwa Mut machen?
Ja, natürlich gibt es Kinder, die damit entspannt umgehen oder das sogar wirklich gerne tun. Aber die meisten Kinder haben ein ziemlich großes Problem damit. Einfach weil sie sich dabei überhaupt nicht wohlfühlen, von 25 Klassenkameraden angestarrt und dafür am Ende mit einer Note bewertet zu werden.
Entwicklungspsychologisch betrachtet
Kinder erleben sich über Beziehung, Resonanz und Sicherheit. Der Gehirnbereich, der für Impulskontrolle, Selbstregulation und realistische Selbsteinschätzung zuständig ist, bleibt bei Kindern noch lange im Rookie-Modus. Erst mit Anfang 20 ist dieser Teil des Gehirns halbwegs fertig entwickelt. Ein Kind, das nicht auf Kommando leidenschaftlich performt, ist also kein Problemfall, sondern neurologisch völlig auf Spur.
Zwang ist kein Verstärker für Mut. Er ist ein Killer für Motivation.
Meine Tochter kam einmal, halb panisch, auf mich zu und erzählte, dass sie ein Gedicht auswendig lernen und an Tag X vor der Klasse vortragen soll. Sie wollte das aber nicht machen. Und ich habe sie weder vollgequatscht, noch überredet oder Mut gemacht, das durchzuziehen. Warum? Weil es dafür einfach keinen wichtigen Grund gab. Punkt. Es hatte keine Relevanz für meine Tochter und sie hatte auch nicht den inneren Antrieb, diese Challenge zu meistern.
Also habe ich ihre Lehrerin kontaktiert und vorgeschlagen, dass meine Tochter ihr Gedicht unter vier Augen aufsagt. Die Lehrerin war einverstanden, betonte aber, dass das eine Ausnahme sei. Das nächste Mal ginge das dann so aber nicht mehr. Und warum nicht? Weil jedes Kind lernen müsse, vor Gruppen zu sprechen.“ Aha, und warum ist das wichtig? Keine Antwort.
Aktuell steht für sie der schlimmste Albtraum an: ein Lied vor der ganzen Klasse singen. Wie sie da rauskommt, weiß sie noch nicht. Klar ist aber, dass sich alles massiv in ihr sträubt. Und ich werde sie damit auch nicht allein lassen. Aber ich will ihr die Chance nicht nehmen, eine eigene Lösung zu finden. Ein Gedicht, ein Lied, ein Trauma
Wenn das Nervensystem einen Abgang macht.
Ein Kind, das im Panik-Modus vor der Klasse steht, weil es performen soll, speichert nicht „Whoohoo, ich hab’s geschafft“, sondern fühlt Ohnmacht. Und Ohnmacht ist emotionaler Sprengstoff. Aus der Emotionsforschung weiß man längst: Nicht gelebte Gefühle verschwinden nicht. Sie stauen sich an und explodieren irgendwann. In Wut, Rückzug oder chronischem Stress. Das Resultat erlebt man jeden Tag: Erwachsene, die ihre eigene Demütigung von damals für „normal“ halten und genau deshalb keinen Schmerz dabei spüren, wenn Kinder heute die gleiche Folter über sich ergehen lassen müssen. Läuft!
Und jetzt kommt die Sache mit dem Trauma.
Einige werden jetzt wieder mit den Augen rollen, aber: Wenn Kinder gegen ihren Willen zur Selbstdarstellung gezwungen werden, macht das etwas mit ihnen. Viele von uns Erwachsenen tragen doch genau diesen ungelösten Mist noch mit sich herum. Und dann kommt das Argument, das mir jedes Mal das Hirn raushaut: „Da mussten wir alle durch. Hat uns ja auch nicht geschadet.“
Na klar hat es das! Recht heftig sogar. Man erkennt an genau dieser unreflektierten Aussage, dass es so ist. Klassischer Verdrängungs-Mindfuck. Denn ich wette, dass die wenigsten, mit wohligen Gefühlen an ihre unfreiwillige Gedichte-Vortragerei zurückdenken, sondern eher innerlich zusammenzucken.
Schule reproduziert oft den gleichen seelischen Druck wie früher und nennt es pädagogisch wertvoll.
Schule inszeniert sich gern als moderner, reflektierter Lernort, aber oft läuft dort immer noch das gleiche emotionale Folterprogramm wie früher, nur mit fancy Etikett. Man nennt es heute „Kompetenztraining“, „Förderung der Persönlichkeitsentwicklung“ oder „Stärkung der Auftrittskompetenz“. Klingt nett, aber wir zwingen Kinder weiterhin zu Dingen, bei denen sie am liebsten durch das Klofenster abhauen würden.
Der alte Vibe a la „Stell dich nicht so an, das gehört halt dazu!“ wird einfach nicht entsorgt, sondern immer wieder neu lackiert. Nur weil man die unsichtbare Peitsche heute mit einem Smiley-Aufkleber pimpt, spürt das Nervensystem des Kindes sie nicht weniger. Und genau da liegt der Denkfehler: Kinder wachsen nicht an Zwang, sondern an Beziehung. Nicht an Bühne, sondern an Vertrauen. Nicht daran, vorgeführt, sondern daran, gesehen zu werden.
Theorie vs. Lebensrealität: Wenn Lernziele am Kind vorschießen
Auf dem Konzeptpapier klingen Lernziele wie Sprachförderung, Persönlichkeitsstärkung, Gruppengefühl durch Gedichte aufsagen oder Liedchen vorsingen durchaus sinnvoll. In der Realität aber scheitern viele dieser gut gemeinten Konzepte immer wieder am wichtigsten Faktor: dem Kind selbst. Denn was in der Theorie als Entwicklungschance gilt, fühlt sich für viele Kinder schlicht nach Überforderung, Bloßstellung oder purem Stress an. Betrachten wir einfach mal Theorie und Lebensrealität etwas genauer:
Sprachförderung und Gedächtnistraining
In der Theorie soll durch das Auswendiglernen von Gedichten die sprachliche Ausdrucksfähigkeit, das rhythmische Sprachgefühl und die Merkfähigkeit trainiert werden. Gedichte gelten als besonders geeignet, um Wortschatz, Sprachmelodie und Intonation zu fördern.
Sprachförderung lebt von echtem Interesse und emotionaler Beteiligung, nicht von Zwang und Leistungsdruck. Kinder lernen Sprache am besten in lebendigen, bedeutsamen Situationen. Beim Spielen, Erzählen, Diskutieren, Reimen, beim Lesen guter Texte oder in dialogischer Beziehung. Kinder werden sich automatisch Dinge merken und Sprachmuster aufnehmen. Ein auswendig gelerntes Gedicht kann zwar im besten Fall ein Sprachspiel sein, wird aber durch die Pflicht zur Präsentation vor der Klasse schnell zum Stressor. Naja, und Stress blockiert Lernprozesse. Was also hängen bleibt, ist weniger die Sprachmelodie, sondern eher die Übelkeit.
Stärkung der Persönlichkeit
In der Theorie: Vor der Klasse zu sprechen, soll das Selbstvertrauen und die Präsentationsfähigkeit der Kinder stärken. Sie sollen lernen, mit Nervosität umzugehen, sich zu zeigen und sich zu behaupten.
Mut wächst in einem sicheren Rahmen, nicht unter Zwang. Kinder erleben Selbstvertrauen durch das Gefühl: Ich werde gesehen, wie ich bin, nicht, weil ich funktioniere. Vor der Klasse zu stehen, obwohl man das überhaupt nicht will, ist keine Persönlichkeitsstärkung, sondern ein innerer Verrat. Es lehrt Kinder nicht, mit Nervosität umzugehen, sondern ihre Angst zu schlucken. Echte Präsentationsfähigkeit entwickelt sich aus freiwilliger Motivation, aus erlebter Kompetenz und aus der Gewissheit heraus nein sagen zu dürfen.
Soziale Teilhabe und Gruppengefühl
In der Theorie soll gemeinsames Singen oder das Vortragen im Klassenverband die soziale Integration fördern. Alle machen mit. Kinder sollen lernen, Teil einer Gruppe zu sein, sich einzufügen und gleichzeitig selbst sichtbar zu werden.
„Alle machen mit“ ist kein pädagogisches Ideal, sondern eine euphemistische Umschreibung für Gleichmacherei. Soziale Teilhabe entsteht nicht durch Konformität, sondern durch das Gefühl, mit seinen Ecken und Kanten willkommen zu sein. Wenn Kinder gezwungen werden, etwas zu tun, was ihnen unangenehm ist, lernen sie nicht Zugehörigkeit, sondern Anpassung! Und wer da nicht mitmacht, wird schnell zum „Querschläger“, „Verweigerer“ oder „Problemkind“ erklärt. Schade eigentlich, denn gerade diese Kids folgen ihrem inneren Kompass.
Ein Gedicht, ein Lied, ein Trauma. Lehrplan hin oder her.
Viele Lehrer fühlen sich durch die Rahmenlehrpläne verpflichtet, die vorgegebenen Lernziele umzusetzen. Dabei handeln sie oft im Spannungsfeld zwischen Erwartung von außen und pädagogischem Bauchgefühl. Dabei geben Lehrpläne zwar die zu erreichenden Ziele vor, nicht aber die Methoden. Es ist nicht vorgeschrieben, dass ein Kind zwingend allein vor der Klasse stehen muss, um eine Kompetenz zu erwerben. Lehrkräfte haben Spielraum. Sie können kreative Alternativen schaffen: Partnerpräsentationen, Audioaufnahmen, kleine Gruppen, freiwillige Beiträge. Wer sich hinter dem Lehrplan versteckt, ignoriert seine Verantwortung als Beziehungsgestalter. Und wer meint, sein pädagogisches Bauchgefühl sei weniger wert als die Norm, gibt sein wichtigstes Instrument aus der Hand.
Pädagogische Ziele können sinnvoll sein, aber nicht unter Zwang und nicht bei jedem Kind auf dieselbe Weise. Rahmenlehrpläne werden oft vorgeschoben, um starre Routinen oder Bewertungskultur zu rechtfertigen, die mit echter Entwicklung wenig zu tun haben.
Was Kinder brauchen?
Beziehung statt Bewertung. Wahlmöglichkeiten statt Zwang. Resonanz statt Rampenlicht. Vertrauen statt Druck. Eine Wahl, die wirklich eine ist. Und Erwachsene, die nicht mit pädagogisch aufgehübschtem Sadismus ihr eigenes Kindheitstrauma fortsetzen.
Wenn Kinder den Mut aufbringen, auszusprechen, dass sie nicht vor der Klasse performen möchten, muss das berücksichtigt werden. Denn genau diese Kompetenz, nämlich sich zu behaupten, sich mitzuteilen und die Erfahrung zu machen, ernst genommen zu werden, gilt ja als zu erreichendes Lernziel. Blöd nur, wenn wir diese zunehmend wachsenden Kompetenzen im Keim ersticken, weil diese nun gerade nicht in unsern geplanten Ablauf passen.
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