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Erziehung im Wandel

  • Autorenbild: Jeannette Kriesel
    Jeannette Kriesel
  • 5. Mai
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 7. Juni

Warum früher nicht alles besser war und heute auch nicht alles gut ist


Mädchen in der Natur sitzend, liest in einem Buch

„Unsere Kinder brauchen keine perfekten Eltern. Sie brauchen Menschen, die echte Verbindung zulassen. Eltern die bereit sind, ihre alten Wunden anzusehen und die eigene Geschichte zu hinterfragen“ Jeannette Kriesel

Früher war alles besser? Oder war früher einfach alles anders?

Die Art, wie wir Kinder begleiten, formen, unterstützen und manchmal auch brechen, ist kein statisches Konzept. Sie ist ein Spiegel der Zeit, der Kultur, der gesellschaftlichen Narrative und unserer eigenen Geschichten. Und genau deshalb lohnt es sich, einen Blick zurückzuwerfen. Wie wurde früher erzogen, wie heute und was hat diesen Wandel geprägt?

 

Gehorsam, Pflicht und kleine Erwachsene

Wenn wir auf die Erziehung früherer Generationen blicken, dann sehen wir eines sofort: Kinder waren keine eigenständigen Persönlichkeiten, sie waren unfertige Erwachsene auf Abruf. Die klassische Erziehung: Kontrolle, Gehorsam, Anpassung. Das Bild vom Kind klar: Es galt als unfertig, widerspenstig, zu disziplinieren. Erziehung war etwas, das mit dem Kind gemacht wurde, nicht für das Kind. Gehorsam war Tugend, Eigenwille war Störfaktor.

 

Die Kinder mussten funktionieren. Und die Eltern auch. Diese Vorstellung hat tiefe Spuren hinterlassen. Viele von uns tragen noch immer die Stimmen der eigenen Kindheit in sich: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“, „Kinder haben zu schweigen, wenn Erwachsene sprechen“, "Ein Indianer kennt keinen Schmerz." Es war eine Zeit, in der Machtgefälle nicht hinterfragt, sondern verteidigt wurden.

 

Und es war eine Zeit, in der emotionale Nähe oft unter dem Deckmantel der Strenge und verkorkster Tugenden erstickte. Kritische Fragen waren frech. Gefühle zeigen war Schwäche. Disziplin galt als höchstes Gut.

 

In einer rauen, von Existenzsicherung geprägten Welt hatte dieses Modell Überlebensvorteile. Kinder sollten tun, was von ihnen verlangt wurde. Glückliche Kinder? Emotionale Bedürfnisse? Ein Luxus, den sich kaum jemand leisten konnte.

 

Der Bruch: Neue Menschenbilder, neue Widersprüche

In den letzten Jahrzehnten hat sich ein radikaler Perspektivwechsel vollzogen. Das Kind ist nicht mehr Objekt der Erziehung, sondern Subjekt seines eigenen Lernens. Eine Erziehung war im Wandel.

 

Ab den 1960er Jahren kam Bewegung in die starre Welt der Erziehung. Autoritäten wurden hinterfragt, Gefühle wurden wieder akzeptabler. Kinder galten nicht länger als kleine Miniversionen Erwachsener, sondern als eigenständiges Individuen.

 

Impulse kamen von reformpädagogischen Bewegungen, von der humanistischen Psychologie und nicht zuletzt von Autoren wie Jesper Juul, der das "kompetente Kind" ins Zentrum stellte, oder Gerald Hüther, der einen beziehungsorientierten Erziehungsstil vertritt.

 

In der Folge entstanden viele Impulse:

  • Kinder sollten nun verstanden werden, nicht nur geführt.

  • Erziehung wurde mehr zur Beziehung.

  • Psychologie, Neurowissenschaft und Bindungsforschung schoben kräftig an.

 

Das Bild vom Kind änderte sich von „formbarem Objekt“ zu „eigenem Subjekt“. So weit, so gut.Aber wie das so ist, wenn ein Pendel schwingt, es schlägt selten genau in der Mitte ein.

 

Beziehung oder Beliebigkeit?

Während Hüther und Juul das Kind als kompetenten Mitgestalter in den Mittelpunkt rückten „Kinder brauchen keine Dressur, sie brauchen echte Verbindung“, warnte Michael Winterhoff: „Achtung, wir produzieren bindungsunfähige kleine Narzissten!“

 

Sein Argument: Wenn Eltern sich ausschließlich als Partner ihrer Kinder sehen, ohne klare Führung, verlieren Kinder Halt und Orientierung. Zwischen den Polen „Freiheit um jeden Preis“ und „Alte Schule“ zerrieben sich viele Eltern. Und ihre Kinder gleich mit. Überforderung, Schuldgefühle und Selbstzweifel auf beiden Seiten.

 

Ein Plädoyer für Natürlichkeit in der Erziehung Wandel

Betrachten wir eine Ebene, die bislang jenseits der klassischen Erziehungsdebatten lag, aber durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse aus Psychologie, Neurobiologie und wachsendem Bewusstsein zunehmend in den Fokus rückt.

 

Der kulturelle Tunnelblick: westlich, wohlmeinend, aber weltfremd

Die gesamte psychologische Forschung zur Entwicklung von Kindern war auf Menschen mit europäischem Hintergrund ausgerichtet, obwohl diese nur einen Bruchteil der Weltbevölkerung ausmachen. Was wir für "normal" halten, ist kulturell hochspezialisiert und historisch ziemlich jung.

 

Viele heute etablierte Erziehungsmethoden gibt es erst seit wenigen Jahrzehnten. Die westliche Kernfamilie, Mutter, Vater, Kind unter einem Dach, ist keine universelle Konstante, sondern eine Ausnahme. In der Menschheitsgeschichte war Erziehung eine Angelegenheit des Clans, des Dorfes, der Gemeinschaft.

 

Heute aber liegt die Verantwortung für die Entwicklung eines Kindes fast ausschließlich bei zwei Menschen, nämlich bei Vater und Mutter -vor allem bei der Mutter.

 

Mütter sollen liebevoll, gebildet, konsequent, achtsam, intuitiv, informiert, präsent, geduldig, strukturiert und dabei natürlich total entspannt sein. Das Ergebnis ist nicht selten von emotionaler Erschöpfung und chronischen Schuldgefühlen geprägt. Eltern, verlieren sich selbst, während sie versuchen, "es richtig zu machen". Dabei war Erziehung nie als Solo-Aufgabe gedacht.

 

Hinzu kommt, dass die moderne Erziehung viel zu verkopft geworden ist. Denn Kinder brauchen weniger Intervention und mehr natürlichen Raum zur Entwicklung.

 

Statt Frühförderwahn und Überbetreuung, lieber:

  • Bindung statt Belehrung

  • Erleben statt Einreden

  • Vertrauen statt Funktionieren

  • Fehlerfreundlichkeit statt Perfektion

 

Kinder müssen nicht „optimiert“ werden. Sie sind von Natur aus mit einem Antriebswillen ausgestattet, wie wir ihn als Erwachsene manchmal gerne hätten. Man denke nur an den inhärenten Willen, das Laufen zu erlernen. Scheitern sie bei ihren ersten Gehversuchen, kommen sie nicht auf die Idee, sich selbst auszubremsen und sich zu denken: „Ich lass das mal lieber mit dem Laufen -ist nicht so mein Ding.“ Sie sind selbstentwicklungsfähig, wenn man sie lässt, indem man nicht ständig eingreift, korrigiert oder reguliert und wenn Eltern auch mal ihre eigenen Muster ehrlich reflektieren würden.

 

Deshalb mein Appell: Nicht nur die Methoden ändern, sondern das eigene Menschenbild hinterfragen.

 

Die grundsätzliche positive Entwicklung birgt aber auch neue Gefahren Erziehung im Wandel

Heute dürfen Kinder weinen, wütend sein, fragen und sich ausprobieren. Heute gibt es mehr Wissen über Bindung, Beziehung, Trauma, Gehirnentwicklung. Heute haben Kinder Rechte, nicht nur Pflichten.

 

Aber: Heute sind viele Eltern verunsicherter denn je. Heute werden Kinder zu Projektionsflächen. Karriere, Selbstverwirklichung, Heilung alter Wunden. Heute droht Erziehung oft zu kippen in Beliebigkeit, Orientierungslosigkeit oder stille Überforderung. Freiheit ohne Reife bringt Unsicherheit, nicht Stärke.

 

Eltern befinden sich in einer unbewussten Optimierungsfalle und im ständigen Modus der Selbstüberforderung. Sie glauben, dass sie das Kind durch kluge Frühförderung, Sprachtraining, Motorik-Gruppen und Sozialkompetenz-Coaching zu einem besseren Menschen formen können und müssen. Doch häufig tritt das Gegenteil ein: Kinder werden nicht kompetenter, sondern überreizter. Insbesondere Mütter, werden nicht sicherer, sondern erschöpfter. Kind „perfekt“, Mama am Ende.

 

Was Eltern heute wirklich brauchen

Nicht neue Methoden. Nicht neue Super-Nannys. Nicht mehr Ratgeber. Sondern:

 

  • Mut zur Selbstreflexion

  • Klarheit über eigene bewusste und vor allem unbewusste Prägungen

  • Verständnis für die eigentliche Aufgabe von Elternschaft: Echte Beziehung, nicht Perfektion.

 

Mütter (und Väter) müssen nicht lernen, bessere Animateure oder Chef-Diplomaten zu werden. Sie dürfen lernen, wieder in den eigenen Kontakt mit sich selbst zu kommen, sich selbst wieder zu fühlen und sich zu erlauben, echt zu sein auch in ihrer Unvollkommenheit. Kinder brauchen keine perfekten Eltern, sondern echte, integre Menschen.


Dabei ist unsere Art zu erziehen tief im Unterbewusstsein verankert, geprägt durch die eigene Kindheit. Ganz egal, ob wir heute sagen „Das war gut“ oder „So will ich es nie machen“. Vieles davon steckt trotzdem in uns. Oft übernehmen wir mehr von unseren Eltern, als uns bewusst ist.


Wenn Erziehung auf Altlast trifft

Hinter der Unsicherheit vieler Eltern steckt oft mehr als fehlende Anleitung: Es ist das Echo früherer Generationen. Denn Erziehung geschieht nie im luftleeren Raum. Sie ist geprägt durch Muster, die tief in familiären Erzählungen, Rollenbildern und unausgesprochenen Erfahrungen verankert sind. Was Eltern heute als Überforderung empfinden, kann ein Ausdruck transgenerationaler Weitergabe sein, ein Erbe, das sich nicht nur im Denken, sondern auch im Fühlen und Handeln zeigt.


Elternsein neu denken: wie die Epigenetik verstehen hilft

Aus der Epigenetik und Neurobiologie wissen wir inzwischen längst, dass die Art, wie Eltern, insbesondere Mütter, mit ihren Kindern umgehen, geprägt, gelernt, übernommen ist. Die Mutter-Kind-Beziehung spielt dabei eine zentrale Rolle. Mütter sind der erste emotionale Nordstern für ihre Kinder. Und dieser Stern leuchtet nicht selten im Licht früherer Erfahrungen, unausgesprochener Konflikte und generationenübergreifender Geschichten.

 

Bereits das Ungeborene reagiert im Mutterleib auf die emotionalen Zustände der Mutter. Und die Mutter-Kind-Beziehung ist, ob gewollt oder nicht. Was nicht verarbeitet, nicht ausgesprochen oder nicht betrauert wurde, findet oft andere Wege, sich zu zeigen, in Konflikten, körperlichen Reaktionen oder im ständigen inneren Druck.


Zudem gibt ein transgenerationales Sippen-Wissen, wie Traumata, Schuld, Ausgeschlossenes, unerzählte Geschichten oder verdrängte Schicksale. All das kann sich, wissenschaftlich nachvollziehbar, durch Verhalten, Bindung, Affekt und Körpersprache auf die nächste Generation übertragen. Genauso wie ungelebte Potenziale, Fähigkeiten, Talente.


Mit anderen Worten: Viele Mütter tragen nicht nur ihre eigene Geschichte. Sie tragen ein Erbe. Und oft spüren sie die Last, ohne sie benennen zu können. Das ist kein persönliches Versagen. Es ist ein kollektives Nicht-Wissen unserer Gesellschaft. Und genau deshalb brauchen wir mehr als Techniken: Wir brauchen Bewusstsein.


Dieser Blick zurück ist kein Rückfall in die Vergangenheit. Er ist ein Schritt in Richtung Integration und letztlich Voraussetzung dafür, sich aus der ständigen Überforderung zu lösen, die so viele Eltern heute erleben.

 

Und jetzt? Eine neue Perspektive einladen

Dieser Text ist kein nostalgischer Rückblick. Er ist auch kein Manifest gegen moderne Erziehung. Sondern ein Weckruf.


Wenn wir aufhören, unsere Kinder als Projekte zu betrachten, wenn wir begreifen, dass Erziehung nicht im Kopf, sondern in der Beziehung zueinander passiert, wenn wir uns erlauben, nicht perfekt zu sein, sondern echt, dann schaffen wir vielleicht einen neuen Raum. Einen, in dem Kinder wachsen dürfen, ohne optimiert zu werden. Und Eltern, die sich nicht mehr an Ansprüchen aufreiben müssen, die auf Kosten der einer unbekümmerten Kindheit geht.


Denn der Wandel der Erziehung ist nicht vorbei. Er ist mitten im Gange. Und wir sind diejenigen, die ihn gestalten können.


Einladung zum Innehalten

Wenn du glaubst, dass du ständig scheiterst, weil du dein Kind angeschrien hast, nicht „gewaltfrei“ genug bist, nicht das neueste Entwicklungskonzept verstanden hast und schon den nächsten Mütter-Workshop im Warenkorb hast, dann halt kurz inne. Du musst kein optimiertes Mutter-Modell werden. Vielleicht ist es den Versuch wert damit aufzuhören, sich selbst wie ein fehlerhaftes Projekt zu behandeln.

 

Und du? Wo stehst du auf dem Pendel? Funktionierst du noch oder fühlst du schon? Die Veränderung beginnt nicht bei deinem Kind. Sondern bei dir.


Du willst mehr davon? Komm rüber in meinen Telegram-Kanal: ehrlich, direkt & ohne Feenstaub.

 
 
 

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