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Schlaflos mit Typ-1-Diabetes

  • Autorenbild: Jeannette Kriesel
    Jeannette Kriesel
  • vor 13 Stunden
  • 4 Min. Lesezeit

Warum Übernachtungen für Typ-1-Diabetes-Eltern kein Kinderkram ist.


Mädchen mit Typ-1-Diabetes misst ihren Blutzucker

Ein Artikel über Angst, Verantwortung und die Wahrheit hinter “Lass sie doch mal machen”.

Übernachten bei Freunden ist für die meisten Eltern eine harmlose Sache. Ein Stück Freiheit, Kindheit, Abenteuer.


Für Eltern eines Kindes mit Typ-1-Diabetes ist es etwas ganz anderes. Es ist ein kontrollierter Ausnahmezustand. Unsichtbar für alle, die es nicht betrifft. Brutal spürbar für alle, die es jeden Tag leben. Neulich war wieder einer dieser Momente.


Meine Tochter wollte bei ihrer Freundin übernachten. Alles abgesprochen, was man so absprechen und absichern kann: Glukose-Sensor-Alarme und Vibration an. Klingelton laut. Handy-Akku voll. Backup-Plan. Nachricht an die Mutter. Nummer parat. Zumindest dachte ich das. Mitten in der Nacht eine Unterzuckerung, wie aus dem Lehrbuch. Was dann passiert ist, kennt jede Typ-1-Mutter: Du rufst an. Sie geht nicht ran. Du rufst nochmal. Und nochmal. Und irgendwann kennst du diese Grenze, wo aus “hm, komisch” ein “okay, das fühlt sich nicht gut an” wird. Und plötzlich kippt es.

Und du denkst nicht mehr logisch. Du denkst nicht mehr gelassen. Du denkst in Unterzuckerungen, in Zeitfenstern, in Risiken. In den Dingen, die man als Typ-1-Elternteil nie laut ausspricht, weil man sonst nicht mehr schlafen könnte.


Ich habe fast zwei Stunden versucht, meine Tochter zu erreichen. Zwanzig Anrufe. Mobilfunk und WhatsApp. Keine Reaktion. Auch die Mutter nicht erreichbar, weil sie vorbildlich ihr Smartphone nachts ausmacht. Ich checke, dass mir die Nummer der Freundin meine Tochter fehlt und nehme mir vor, dieses Versäumnis nachzuholen. Für´s nächste Mal…


Und während ich da sitze, mit klopfendem Herzen und viel zu vielen Gedanken im Kopf, weiß ich genau, dass es anderen Eltern gerade völlig normal geht. Aber für uns ist es das nicht. Für uns ist Übernachten kein Problem aber auch kein Kinderkram. Es ist ein Risiko, das wir tragen, damit unsere Kinder trotzdem Kind sein können.


Und das hat wenig mit Kontrolle zu tun. Es hat nichts mit Überbehüten zu tun und auch nicht mit fehlendem Vertrauen. Es hat mit Verantwortung zu tun. Mit der Art Verantwortung, die man bekommt, wenn ein Teil des Lebens eines Kindes sich an Zahlen, Sensoren und Alarmen orientiert.

Wir wollen ihnen Freiheit geben. Wir wollen ihnen Normalität geben. Aber wir brauchen ein System, das uns nachts nicht umbringt vor Sorge. Manchmal reichen Absprachen, Sensor-Alarme und gute Vorsätze nicht.


Was wir brauchen, ist Redundanz. Ein System, das funktioniert, selbst wenn jemand aus Versehen auf „stumm“ drückt. Ein System, das greift, wenn ein Handy vom Bett fällt oder das nachts laut wird, auch wenn alle schlafen. Ein externes Alarmgerät, eine zweite, dritte, vierte Nummer, ein lauter Wecker. Eine klare Regel: Handy nicht auf stumm.


Und vor allem: Ehrlichkeit darüber, dass wir diese Sicherheiten brauchen. Nicht, weil wir übertreiben, sondern weil wir wissen, was passieren kann, wenn ein Alarm nicht gehört wird.

Und zwischendurch Gedanken-Ping-Pong: Fahr hin. Klingel halt die ganze Familie wach. Hauptsache, du weißt, dass sie okay ist. Und gleichzeitig: Das kannst du doch nicht machen. Das ist übertrieben. Dann heißt es am Ende noch, weitere Übernachtungen seien schwierig oder „gerade ungünstig“. Und ich will ihr diese Freiheit nicht kaputtmachen.


Es war ein Hin-und-Her zwischen Vernunft, Angst und dem Wunsch, ihr Leben nicht einzuschränken. Denn in dieser Stunde habe ich alles durchdacht, was Eltern von außen nie sehen: Ist der Sensorwert wirklich zuverlässig? Oder liegt sie vielleicht tiefer, und die Zahl auf dem Bildschirm ist nur eine verzögerte Hoffnung? Wie lange dauert es, bis eine Unterzuckerung gefährlich wird, wenn niemand reagiert? Und wie verdammt leise kann ein Handy eigentlich sein, wenn man tief schläft? Dazu kam dieser stille Ärger. Ärger darüber, dass sie weder ihre Sensoralarme zuverlässig hört noch meine Anrufe, Ärger darüber, wie wir das in Zukunft lösen sollen. Was ist, wenn sie 18 ist und in einer eigenen Wohnung schläft? Was, wenn niemand da ist, der ein Piepen überhaupt bemerkt?


Meine Tochter geht nach über zwei Stunden an ihr Telefon. Schlaftrunken, verpennt, einsilbig und sagt: „Alles gut, Mama.“  Nur versehentlich das Smartphone auf stumm geschaltet. Nichts Dramatisches. Zumindest nicht für sie. Durchatmen! Sicherheit zurückholen. Reflektieren. In 10 Jahren keine so schwere Unterzuckerung, dass das Notfallmedikament nötig war. Auch dieses Mal nicht.


Und trotzdem war es für mich ein zweistündiger Kampf gegen die eigene Ohnmacht. Und für viele Eltern, die das lesen, wird es genauso vertraut klingen. Ich bin kein überbesorgter Mensch. Unterzuckerungen zu Hause machen mir wenig Stress, weil ich eingreifen kann, weil ich da bin, weil ich die Sicherheit habe, dass ich reagieren kann. Aber wenn sie woanders übernachtet, fehlt dieses Netz. Ich kann nicht eingreifen. Ich kann nicht testen. Ich kann nicht sehen, ob der Blutzuckerwert stimmt oder nur der Glukosesensor ungenau läuft. Und genau das ist der Moment, in dem aus einer Übernachtung ein Prüfstein wird: für Vertrauen, Verantwortung und die Frage, wie viel Freiheit ein Kind mit  Typ-1-Diabetes haben darf und wie viel man ihm ermöglichen kann, ohne nachts durchzudrehen.


Für alle anderen ist Übernachten ein Abenteuer. Für uns ist es das auch. Nur eben mit mehr Alarmeinstellungen.


Text: Schlaflos mit Typ-1-Diabetes von Jeannette Kriesel

 


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Jeannette Kriesel

 
 
 

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