Wenn das innere Kind zur Kreditfalle wird
- Jeannette Kriesel
- 1. Juli
- 8 Min. Lesezeit
Warum du bei manchen Mama-Coachings lieber genau hinschauen solltest

„Eltern sein ist kein Defizit. Und wer daran verdient, sollte wenigstens ehrlich sein.“ Jeannette Kriesel
In der Welt des Eltern-Coachings ist derzeit einiges los. Workshops und Begleitprogramme sprießen wie Pilze aus dem Boden. Immer mehr Mütter finden sich in angeblich kostenlosen Kursen wieder, die sich kurz danach als Verkaufsrampen für hochpreisige Programme entpuppen. Was aussieht wie ein heilbringender Kurs, ist in Wirklichkeit oft eine perfekt inszenierte Verkaufsmaschinerie für spirituell getunte High-Ticket-Coachings.
Es gibt viele dieser Programme aus allen Bereichen: Finanzielle Unabhängigkeit, Bio-Hacking, Persönlichkeitsentwicklung, Spirituelle Erleuchtung, Elternschaft & Kindererziehung. Und sie funktionieren ähnlich. Emotionalisierung. Storytelling. Pseudo-Nähe.
Und dann das große Angebot, bei dem es weniger um die Qualität des Inhalts geht, denn darüber erfährt man erstmal so gut wie nix, sondern um die Perfektionierung des Verkaufsprozesses. Mit Verkaufspsychologie, Neuromarketing, Pain-Point-Triggern und Testimonial-Schleifen. In diesem Artikel geht es speziell um Eltern-Programme und Mama-Coaching-Kurse.
Es beginnt immer mit einem Trigger
Viele Workshop-Titel klingen nach Erlösung. Ein paar Insta-Reels von verzweifelt schreienden Müttern, traurigen oder durchdrehenden Kindern, Schuldgefühlen. Du klickst. Du seufzt. Du denkst: „Endlich jemand, der mich versteht. Nicht nur mir geht es so.“
Und dann: „Ich hab da was für dich.“ Ein Link führt zu einem kostenlosen Workshop, einer Einladung zu mehr Leichtigkeit. Und Zack, bist du mittendrin im Marketing-Funnel und Teil einer Strategie, die dein schlechtes Gewissen in bare Münze verwandeln will.
Das schlechte Gewissen als Business-Idee
Es ist ein Milliardengeschäft: Mama-Coachings, Elternprogramme, Innere-Kind-Seminare, meistens im Video-on-Demand-Format, dazu gelegentliche Live-Calls und Q&A-Sessions. Ach ja: Und haufenweise Workbooks.
Das funktioniert nicht, weil es besonders wirksam ist, denn über das „Wie“ und, was das Programm so besonders macht, erfährst du erstmal nichts. Du erfährst immer nur, dass es einzigartig ist und niemand sonst anbietet.
Es funktioniert, weil es besonders geschickt inszeniert und choreografiert wird. Nichts wird dem Zufall überlassen. Es funktioniert, weil es ein Gefühl verkauft: Hoffnung. Erlösung. Vielleicht sogar eine neue Identität. Und das sind starke Versprechen, besonders für Menschen, die müde und überfordert sind oder sich allein mit ihrem Problem fühlen.
Was liebevoll kuratiert auf Instagram & Co. zu finden ist, sind teilweise knallharte digitale Verkaufsprozesse.
Ein Workshop oder ein Verkaufstrichter?
Was viele Teilnehmerinnen nicht durchschauen: Sie befinden sich nicht wirklich in einem kostenlosen Workshop, sondern in einem sogenannten "Warm-Up Funnel". Eine bewährte Marketingstrategie: Erst Vertrauen aufbauen, dann Mangel erzeugen.
Das Verknappen durch begrenzte Teilnehmerzahl, erzeugt als erstes ein Gefühl von FOMO (Fear of missing out). Dann folgt eine inszenierte Exklusivität. Denn es wird betont, dass man das Programm nicht einfach so buchen kann. Mütter müssen sich vorab, in einem kurzen persönlichen Gespräch, dafür qualifizieren.
Auf eine Interessentin wirkt das wie ein Privileg von „Whoohoo, ich darf dabei sein“. Und nebenbei werden die „hoffnungslosen“ Fälle aussortiert, die dann doch eine Nummer zu groß für das Programm sein könnten. Schließlich muss ja die Erfolgs-Bilanz stimmen!
Erhält man die Erlaubnis sich anmelden zu dürfen, muss Mama sich aber schon darüber klar sein, dass das Angebot natürlich nur für X Tage gültig ist. Danach dann leider, leider nur noch zum regulären Preis -falls noch Plätze frei sind... Und dann geht’s damit los, das Lösungspaket zu präsentieren. Für mehrere tausend Euro, aber das erfährst du erst viel später. Nämlich dann, wenn du so weit bist, das ganze Paket haben zu wollen. Aber erstmal checkst du noch ein paar Bewertungen.
Rezensionen ohne Reibung
Schaut man auf Bewertungsportalen wie Trustpilot, könnte man fast beeindruckt sein. Oft findet man ausschließlich 5-Sterne-Bewertungen. Keine einzige negative Bewertung?
Das ist bei solch preisintensiven Programmen extrem ungewöhnlich. Keine kritische Stimme, kein ambivalentes Feedback, keine individuellen Nuancen bei den Formulierungen, keine Unsicherheiten oder Verbesserungsvorschläge? Und merkwürdigerweise auch nicht die winzigste Information darüber, was tatsächlich im Programm passiert?
Stattdessen Bewertungen mit sehr einheitlichem Ton und Inhalt. Alle erzählen vom gleichen transformativen Aha-Erlebnis, der magischen Wirkung des Programms und dem plötzlichen Wendepunkt im Leben. Die Rezensionen wirken inszeniert, sprachlich vorgeprägt und dramaturgisch abgestimmt.
Auch sehr auffällig: Die Veröffentlichungen vieler Rezensionen liegen zeitlich auffällig nah beieinander. Aber gut, ist wohl ein Zufall.
Natürlich kann ein Programm hilfreich sein. Aber es gibt immer auch ehrliche Stimmen, Reibung, Zweifel, kritische Rückmeldungen.
Wenn hunderte Fake-Kontakte Druck machen
Verkaufen über Vertrauen funktioniert. Und nichts schafft so schnell Vertrauen wie eine große, scheinbar aktive Community. Hunderte verzweifelte Mamas & Papas in einer Gruppe? Wow. Das muss gut sein! Was auf den ersten Blick wirkt wie eine riesige, engagierte Community, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen oft als Marketing-Mirage.
Denn Zahlen beeindrucken, besonders wenn sie nicht überprüfbar sind. Aber wie viel davon ist echt? Und wie viel davon ist Show? Dass die meisten Kontakte keine echten sind, ist gängige Praxis. Nennt man dann passiven Social Proof oder auf gut Deutsch: künstlich aufgepumpte Glaubwürdigkeit.
So entsteht eine Verkaufsdynamik, bei der du dich fragst, ob du was verpasst, wenn du nicht mitmachst. Dabei bist du nur Teil einer Illusion. Clever gemacht, aber nicht ehrlich.
Und die Daten echter Community-Mitglieder? Nicht safe! Jeder sieht die Telefonnummer des anderen. Ohne Zustimmung. Ohne Aufklärung. Ohne sichere Plattform. Wer Datenschutz ernst nimmt, bekommt hier Schnappatmung. Es ist rechtlich heikel, ethisch fragwürdig und technisch fahrlässig.
Das Schuld-Geschäft, strategisch serviert
Was passiert in solch einem „kostenlosen“ Workshop? Viel Emotion. Viel Gefühl. Viel Inszenierung. Du bekommst Nähe suggeriert. Tiefe. Verständnis.
Viele der Teilnehmerinnen sind nicht naiv. Sie sind verzweifelt. Erschöpft. Auf der Suche nach Halt. Und sie sind allein. Diese Programme sind so erfolgreich, weil sie mit dem existenziellen Wunsch arbeiten, sich endlich verstanden zu fühlen. Weil sie eine Illusion verkaufen, die besser klingt als die Realität. Und weil sie die Schwachstellen kennen, auf die man nur zu gern drückt.
Hoher emotionaler Druck wird subtil durch Schuld und Hoffnung aufgebaut. Es wird eine Verbindung erzeugt zwischen dem Leid der Kinder und dem ungelösten Schmerz der Mutter. Eine Spirale aus „Du musst dich ändern, sonst bleibt alles schlimm.“
Probleme, wie Wutausbrüche, Überforderung, Erschöpfung, Dauerstress werden stark vereinfacht auf "innere Trigger" reduziert. Schade! Denn ganz so einfach ist das nämlich nicht. Keine Differenzierung zwischen hormonellen, gesellschaftlichen oder strukturellen Ursachen in Sicht.
Weichgeklopfte Mütter kaufen eher
So ein mehrtägiger kostenloser Workshop klingt nach wahnsinniger Großzügigkeit. Und vielleicht nimmst du sogar den ein oder anderen wertvollen Impuls mit. Tatsächlich ist es aber ein sehr genau kalkulierter Ablauf, bei dem der Schmerz sukzessive so lange vergrößert wird, bis die präsentierte Lösung für dein Problem, wie ein Zeichen des Himmels auf dich wirkt und du nach Rettung schreist. Verkaufspsychologie in Reinform. Emotional clever aufgebaut. Klassiker! Sind wir alle schon drauf reingefallen und viele tun es weiterhin.
Die Technik ist alt, aber immer noch hoch wirksam. Und das geht so:
Storytelling: „Ich war auch mal dort, wo du jetzt bist.“
Wirkung: Das Gefühl, auch aus dem Elend rauskommen zu können. Hoffnung durch Vorbild.
Identifikation durch Schmerz: „Mein Leidensdruck war enorm.“
Wirkung: Sich selbst wiedererkennen, in Frust, Versagen, Zweifel. Gefühl von Nähe und Verständnis.
Problemfokussierung: „Du willst endlich diese oder jene Mama sein?“
Wirkung: Der Fokus wird auf die eigene Unzulänglichkeit gelegt. Unzufriedenheit wird zum Handlungsimpuls.
Empathische Spiegelung: „Du bist nicht allein. Wir holen dich da raus!“
Wirkung: Sicherheit durch Gruppenzugehörigkeit. Die Isolation wird aufgehoben – der perfekte Nährboden für Vertrauensaufbau und nahende Rettung.
Exklusivitätskarte: „Keine Therapie bringt dich so weit wie dieses Programm.“
Wirkung: Andere Angebote werden abgewertet. Es entsteht das Gefühl, endlich das eine „richtige“ Angebot gefunden zu haben.
Sozialer Beweis: „Schon hunderte Frauen geheilt!“
Wirkung: Gruppendruck und FOMO (Fear of Missing Out). Wenn es angeblich für alle funktioniert, willst du nicht die sein, die es verpasst.
Druck aufbauen: „Nur noch wenige Plätze. Nur noch jetzt.“
Wirkung: Rationales Nachdenken wird ausgeschaltet, spontane Kaufentscheidung wird getriggert, aus Angst, die einmalige Chance zu verpassen.
Ziel ist es, Mütter emotional „weichzukochen“. Die logische Konsequenz, die gegen Ende immer stärker mitformuliert wird: Du brauchst das Programm, sonst machst du’s weiter falsch.
Und dann kommt der Killer-Satz
Diese Strategie ist schon enorm wirkungsvoll. Und für die, die überlegen, woher sie die Kohle nehmen sollen, wartet immer, wirklich immer schon dieser eine Satz darauf, gesagt zu werden: „Was ist dir dein Kind denn wirklich wert?“
Ein Satz, der sich anfühlt, wie ein Round-House-Kick mitten in die Fresse. Da fühlt sich jede Mama gleich noch ein bisschen beschissener als ohne hin schon. Ein hoch manipulativer Versuch auf Basis von Schuld, das Programm auch an diejenigen zu bringen, die das Geld gerade nicht auf der hohen Kante haben.
Und während du überlegst, woher du das Geld nimmst, kassierst du die nächste Breitseite: „Wenn du jetzt nicht bereit bist, das Geld zu investieren, dann zahlt den Preis dafür ein anderer: dein Kind!“ Boah…, super grenzwertig!
Aber eigentlich alles kein Problem: Geht auch in Raten! Oder man leiht sich was bei Freunden. Man kann auch einfach ein Kredit bei der Bank aufnehmen. Macht man beim Hauskauf ja schließlich auch so. Stimmt alles. Aber man weiß immer noch nicht so richtig, was genau man für sein Geld überhaupt bekommt.
Es bleibt erstmal die Katze im Sack. Oder Schlimmeres
Was du also bekommst, bleibt weiterhin schwammig. Das Einzige, was kommuniziert wird, sind Rahmenbedingungen, wie Dauer des Programms, Umfang der Live-Calls mit X anderen Muttis oder Zugriffsberechtigungen auf Aufzeichnungen, Workbooks oder geschlossenen Communities. Und vielleicht ist auch mal eine individuelle 1:1 Session für dich drin. Das mag für manch einen ausreichen, aber auch nur dann, wenn es um Erfahrungsaustausch, Beratung, Reflexionsgespräche, Tools und möglicherweise hilfreiche Tipps geht.
Geht es aber um tiefe Prägungen und Muster, die sich ständig wiederholen und zu schädigendem Verhalten sich selbst oder anderen gegenüber führen, dann braucht es eine intensive Begleitung.
Wem das klar ist, fragt nach Qualifikationen, Methoden, Erfahrungen, Fallberichten. Nicht zuletzt, um sich die oft sehr hohen Kosten zu erklären.
Fragt man also konkret nach, wird oft drumherum gelabert. Referenzen therapeutischer, pädagogischer oder psychologischer Ausbildungen oder Erfahrungen werden geschickt umgangen oder gar nicht erst thematisiert.
Nicht immer sind Doktor-Titel oder Studienabschlüsse Fähigkeitsmerkmale, aber in gewissen Arbeitsfeldern, reicht einfach kein 6 bis 8-Wochen-Online-Seminar.
Und genau das ist kritisch. Denn tiefsitzende Glaubenssätze, Prägungen und Muster, die immer wieder getriggert werden, sind keine harmlosen Mechanismen, die man mit etwas Affirmationszauber und einem klärenden Gruppen-Call auflösen kann. Trigger sind Erinnerungssplitter aus echten, oft überwältigenden Erfahrungen. Und wer mit solchen inneren Sprengsätzen arbeitet, braucht mehr als gute Absichten und spirituelle Sprachgewandtheit.
Es braucht Fachwissen, Erfahrung im Umgang mit Trauma-Dynamiken, fundierte Methodik und ein tragfähiges Setting, um Re-Traumatisierungen sicher begleiten zu können.
Wie soll das denn online funktionieren, wenn jemand plötzlich in einem Mental-Break-Down festhängt? Wenn Schmerz hochkommt, der jahrzehntelang weggedrückt wurde? Wer fängt das auf? Wer erkennt die feinen Anzeichen dissoziativer Zustände, innerer Überflutung oder regressiver Muster? Und wer trägt am Ende die Verantwortung, wenn da etwas aus dem Ruder gerät? Ich halte das für schwer kalkulierbar.
Da nützt auch kein Aussortieren potenzieller Teilnehmer. Wenn da plötzlich massiv verdrängte Anteile aufgrund eines Traumas sichtbar werden und man das nicht auffangen und halten kann, dann kann die ganze Nummer extrem nach hinten losgehen.
Wer solche Prozesse anstößt, muss wissen, was er tut. Alles andere ist nicht nur fahrlässig, es ist krass übergriffig. Und leider ist genau das bei vielen dieser Programme der blinde Fleck: Sie verkaufen Heilversprechen, ohne zu wissen, wie man mit echter Verletzung umgeht.
Copy-Paste-Coaching mit Schuldumlenkung
Dann die ersten Frust-Momente, wenn das Programm ausgerechnet bei dir nicht funktioniert, wie du dir gedacht hast. Wenn du nach Woche 8 immer noch schreist. Immer noch heulst. Dein Kind immer noch Scheibe spielt. Was passiert dann?
„Du warst nicht bereit.“ „Du bist nicht all-in gegangen.“ „Du hast die Methode nicht richtig angewendet.“ Zack. Verantwortung umgelenkt. Du bist nicht nur Schuld, sondern jetzt auch noch zu blöd. Aber hey, möglichweise geht es den anderen 76 Mamas in deinem Kurs ähnlich. Sagt nur keine was, weil man sich die Investition ja krampfhaft selbst schönreden muss.
Spiritualität darf ehrlich sein. Coaching darf Grenzen haben.
Und Heilung braucht keine inszenierte Überhöhung und schon gar kein manipulatives Marketing. Denn wer Mütter begleitet, begleitet immer auch ihre Kinder. Und das verpflichtet.
Viele dieser Programme appellieren an Schuld, Hoffnung und Selbsterkenntnis und lenken gleichzeitig immer wieder subtil zur Notwendigkeit einer kostenpflichtigen, intensiven Begleitung. Besonders wirksam ist dieses Prinzip, wenn es um Erziehungsfragen, Lernprozesse, Schulstress oder kindliche Entwicklung geht.
Denn der Druck, "alles richtig machen" zu wollen, ist um ein Vielfaches größer, wenn es nicht nur um einen selbst, sondern um das eigene Kind geht. Die eigene Ohnmacht wird dabei nicht aufgefangen, sondern als „Einladung zur Transformation“ verkauft.
Was bleibt? Innere Kind
Viele Eltern brauchen Hilfe. Und viele Anbieter geben ihr Bestes, um genau diese Hilfe zu leisten. Ehrlich, erfahren, qualifiziert, wirksam. Wer ehrlich begleiten will, braucht keine Dramen inszenieren. Nur Klarheit. Haltung. Und Respekt.
Es gibt gute Programme da draußen. Richtig gute. Aber diese maßlos inszenierten Marketing-Maschen, die mit Angst verkaufen und mit Schuld ködern, machen diese gute Arbeit kaputt. Sie übertönen mit Druck all jene, die wirklich helfen könnten und zerstören dabei das Vertrauen in eine ganze Branche. Und das ist das eigentliche Problem.
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