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Jetzt stell dich nicht so an!

  • Autorenbild: Jeannette Kriesel
    Jeannette Kriesel
  • 27. Juli
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 9. Sept.

Warum Kinder nicht das Problem sind, sondern unser absurder Erwachsenen-Modus

 

Blonder Junge mit bunt bemalten Händen vor dem Gesicht

„Wenn wir von Kindern Dinge erwarten, die wir selbst nie aushalten würden, nennt man das nicht Erziehung, sondern Selbstverleugnung mit Ansage.“ Jeannette Kriesel

Willkommen im Erziehungszirkus, in dem Kinder ständig Dinge lernen sollen, die wir selbst nicht beherrschen und dabei bitte leise, freundlich und sofort einsichtig bleiben. Hier ein paar Highlights: Wut bitte deeskalieren. Lernen bitte mit Freude. Lügen bitte sofort aufhören. Respekt? Aber zackig. Und wehe, das Kind weiß nicht mit 9, was es später mal werden will! Klingt bescheuert? Ist es auch. Und genau deshalb nehmen wir das jetzt auseinander. Mit Ironie. Mit Klartext. Und mit der einen oder anderen Ohrfeige für unser pädagogisches Doppeldenken. Jetzt stell dich nicht so an

 

1. Kinder sollen immer ehrlich sein. Aber wehe, sie sagen, was sie wirklich denken.

Wenn Kinder lügen, rasten wir aus. Aber mal ehrlich: Wann hast du deiner Kollegin zuletzt gesagt, dass ihr Parfum scheiße riecht? Eben. Wir lügen jeden Tag, aus Höflichkeit, aus Bequemlichkeit, aus Angst vor Konsequenzen. Kinder lügen, weil sie was vermeiden wollen. Stress, Ärger, Liebesentzug. Wie wir. Nur dass wir ihnen beibringen, es sei moralisch verwerflich, während wir selbst Meister im „Alles gut, kein Problem“ sind. Doppelmoral in Reinform.

 

2. Kinder sollen lernen, aber bitte nicht auf ihre Art.

Sie sollen lesen, schreiben, rechnen, und zwar stillsitzend, fokussiert und natürlich fröhlich. Wären Erwachsene gezwungen, acht Stunden am Tag PowerPoint-Präsentationen zu konsumieren, würden sie spätestens mittags schreiend aus dem Fenster springen. Kinder lernen, wenn’s sie interessiert, wenn sie sich sicher fühlen und wenn keiner mit dem Erwartungsknüppel hinter ihnen steht. Aber wir bestehen auf Struktur, Disziplin und Leistungskontrollen. Klar, weil nichts so sehr zum Lernen motiviert wie Angst vorm Scheitern, oder?

 

3. Wenn Kinder uns triggern, sind sie frech. Wenn Erwachsene ausrasten, war’s ein harter Tag.

Ein Kind haut, schreit oder knallt die Tür und wir reden von „Problemverhalten“. Wir selbst werfen mit Worten um uns, die unter anderen Umständen als Beleidigung strafbar wären. Trigger? Haben nur wir. Kinder haben zu funktionieren. Dass ihr Verhalten oft unser eigenes inneres Chaos spiegelt, geschenkt. Die Verantwortung, unseren eigenen Mist aufzuräumen, schieben wir lieber auf das Kind: „Du machst mich wahnsinnig!“ heißt es dann. Dabei bist du selbst wahnsinnig! Das Kind zeigt’s dir nur.

 

4. Wir wollen respektvolle Kinder, erziehen sie aber mit Macht.

Respekt! Fordern wir. Aber zeigen ihn nicht. Wir schimpfen, drohen, manipulieren („Wenn du jetzt nicht… dann…“), übergehen ihre Bedürfnisse, zwingen sie zum Aufessen, Umarmen, Verzeihen. Alles unter dem Deckmantel von „liebevoller Konsequenz“. Stell dir vor, dein Partner würde dich so behandeln. Das wäre wohl ein absolutes „No-Go“. Aber bei Kindern nennen wir das: Erziehung.

 

5. Jungen und Mädchen sollen gleich sein, aber auch bitte schön ihrem Geschlecht gerecht.

Jungs sollen sich „mehr konzentrieren“, Mädchen „nicht so zickig sein“. Ernsthaft? Wir stopfen sie alle in den gleichen Bildungsbrei und wundern uns, dass einige nicht satt werden. Biologie, Sozialisation, Temperament. Alles egal, Hauptsache angepasst. Dabei lernen Jungs und Mädchen oft unterschiedlich und das ist nicht das Problem, sondern der Schlüssel. Aber klar, es ist eben einfacher, ein Kind zu bewerten als das System zu hinterfragen.

 

6. Kinder sollen sich selbst entfalten, aber bitte so, dass sie später was „Ordentliches“ werden.

Wir predigen: „Sei du selbst!“ Und pressen sie gleichzeitig in Zukunftsängste wie „Was willst du später mal machen?“  Mit acht! Wer heute noch nicht weiß, ob er morgen Baggerfahrer oder Astronautin werden will, gilt als orientierungslos. Dabei sind Kinder keine Investitionsobjekte für unseren Status. Sie brauchen keine perfekten Pläne, sondern echte Begleitung und Erwachsene, die ihren eigenen Karriereweg oder das eigene Scheitern nicht auf sie projizieren.

 

7. Förderung heißt nicht: schneller, höher, weiter.

Wie kann ich mein Kind fördern?“ ist die pädagogische Version von „Wie mache ich aus meinem Kind einen funktionierenden Menschen?“ Die bessere Frage wäre: „Wie kann ich mein Kind dabei unterstützen, bei sich zu bleiben, trotz Schule, Gesellschaft und meiner eigenen Ängste?“ Förderung heißt nicht: Ich stopf dich voll. Förderung heißt: Ich sehe dich. Und ich lass dich wachsen, wie DU wächst und nicht wie mein Konzept das vorsieht.

 

„Entschuldige dich sofort!“  Sag das mal deinem Chef.

Kind hat einen Fehler gemacht? Sofortige Entschuldigung, bitte mit Reue-Miene und Augen-Kontakt. Aber wenn Erwachsene sich im Ton vergreifen, patzen oder übergriffig werden? Dann gibt’s entweder ein betretenes Schweigen oder ein „Stell dich nicht so an.“ Kinder sollen lernen, Verantwortung zu übernehmen aber wehe, sie weisen auf unseren Mist hin.

 

„Du musst teilen!“  Mit dem neuen Handy vielleicht?

Wir zwingen Kinder, ihre Spielsachen zu teilen mit anderen, vielleicht wildfremden Kindern. Aber wehe, jemand fragt dich, ob er mal kurz dein Smartphone haben kann. Teilen funktioniert nicht durch Zwang, sondern durch Beziehung, Reife und Freiwilligkeit. Aber Kinder sollen das mit drei Jahren besser beherrschen als viele Erwachsene mit 40. Witzig!

 

„Jetzt beruhig dich mal!“ Bei Erwachsenen heißt das Coaching.

Wenn ein Kind weint, wütet oder Panik schiebt: „Jetzt beruhig dich!“ Wenn eine erwachsene Person überfordert ist, nennt man es Burnout, Panikattacke, akuter Coachingbedarf. Kinder sollen ihre Gefühle regulieren, am besten ohne Vorbild, ohne Anleitung, ohne Zeit. Selbstregulation ist ein Lernprozess, kein Knopfdruck. Und du bist der verdammte Übungsleiter.

 

„Jetzt sei mal dankbar!“  Für was? Die permanente Überforderung?

Wir erwarten, dass Kinder ständig „bitte“ und „danke“ sagen, egal, wie sie sich fühlen. Aber wenn du drei Jobs gleichzeitig jonglierst und dir jemand sagt, du sollst mal dankbar sein, dass du überhaupt einen hast, drehst du durch. Kinder lernen Dankbarkeit durch Beziehung, nicht durch moralischen Druck.

 

„Du brauchst nicht traurig sein!“ Danke für nichts.

Kind ist enttäuscht, traurig, verletzt. Und wir kommen mit dem pädagogischen Vorschlaghammer: „Ist doch nicht so schlimm!“, „Da brauchst du jetzt nicht weinen!“ Versuch das mal bei deiner besten Freundin nach einer Trennung. Voll übergriffig. Kinder haben ein Recht auf echte Gefühle, nicht auf emotionale Diktatur.

 

„Geh dich mal ’ne Runde beruhigen!“  Klingt bei Erwachsenen wie ein Rausschmiss.

Kind wütet. Ab in die stille Ecke. „Komm wieder, wenn du dich beruhigt hast.“ Wenn dein Partner dich anschreit und du sagst: „Du gehst jetzt ins Schlafzimmer, und wenn du wieder lieb bist, darfst du raus.“ Läuft. Nicht. Gefühlsregulation braucht Begleitung, keine Isolation. Aber wir denken immer noch, Kinder lernen Selbstkontrolle durch Alleinlassen. Definitely nope!

 

„Guck mich an, wenn ich mit dir rede!“  Mach das mal beim nächsten Elterngespräch

Ein Kind schaut weg, weil es beschämt ist und wir bestehen auf Blickkontakt. Mach das mal mit einem Erwachsenen beim Kritikgespräch. Dann heißt’s plötzlich „Ich fühl mich unter Druck gesetzt“. Augenkontakt ist ein Angebot, kein Befehl. Aber bei Kindern wird’s zur Gehorsamsübung gemacht.

 

„Setz dich gerade hin und hör zu!“  90 Minuten Teams-Meeting und du kippst vom Stuhl

Kinder sollen 45 Minuten stillsitzen, zuhören, mitdenken, höflich sein. Und dann kommt der Erwachsene nach dem dritten Tagesordnungspunkt im Meeting an seine Belastungsgrenze und starrt ins Handy. Wir erwarten kognitive Höchstleistung von Menschen, deren Gehirn noch in der Baustellenphase ist. Das ist nicht nur unrealistisch, das ist unfassbar bescheuert.

 

„Sag ordentlich Hallo!“  Aber selbst das Handy nicht aus der Hand legen

Kind soll freundlich grüßen, Hände schütteln, Augenkontakt. Und wir? Nuscheln ins Handy, nicken gestresst und tippen weiter, während wir ein Geschäft betreten oder gerade an der Supermarktkasse bezahlen. Vorleben ist das Gegenteil von Verlangen. Aber klar, Kinder sollen wissen, wie's richtig geht, während wir’s ihnen nicht mal zeigen.

 

„Du weißt doch, wie das geht!“  Echt jetzt? Erinnerst du dich noch an deinen ersten Steuerbescheid?

Kinder sollen nach einmaliger Erklärung wissen, wie’s läuft. Ob beim Schuhe binden oder bei den Mathehausaufgaben. Erwachsene Googlen fünfmal, wie man einen Lebenslauf formatiert. Kinder lernen durch Wiederholung, durch Fehler, durch Zeit. Aber Geduld ist ja leider keine Tugend in der modernen Performance-Familie.

 

„Mach das jetzt, weil ich’s sage!“  Der pädagogische Offenbarungseid.

Kein Argument, keine Erklärung, keine Beziehung, nur Autorität. Stell dir vor, deine Vorgesetzte sagt: „Machen Sie das, weil ich’s sage.“ Wie lange bleibst du noch in dem Job? Kinder verdienen Respekt. Keine Dressur.

 

Also mal ehrlich: Jetzt stell dich nicht so an

Wenn wir unsere Kinder so behandeln würden, wie wir selbst behandelt werden wollen, nämlich mit Respekt und echtem Interesse, dann hätten wir weniger Drama am Küchentisch und mehr Klarheit im Kopf. Weniger „Jetzt beruhig dich mal!“ und mehr „Ich sehe dich.“ Weniger Erziehungstheater, mehr gelebte Beziehung.


Kinder sind keine Erziehungsprojekte. Keine Gefäße für unsere unerfüllten Sehnsüchte. Sie sind keine Spiegel, die uns gefallen müssen, aber sie sind Spiegel, die uns zeigen, wo wir stehen. Und das kann verdammt unbequem sein. Na und?


Denn was Kinder brauchen, sind keine perfekten Vorbilder, sondern ehrliche Arschengel, die ihre eigenen Widersprüche aushalten und trotzdem jeden Tag neu versuchen, nicht den alten Mist weiterzugeben. Echt sein ist nicht immer schön. Aber es ist das Einzige, was heilt.

 



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