Die gemeinsame Mahlzeit: Familienessen oder Folterabend?
- Jeannette Kriesel

- 28. Nov.
- 5 Min. Lesezeit
Warum die heilige gemeinsame Mahlzeit oft keiner verdauen kann

„Ein voller Tisch ersetzt keine leeren Gespräche.“
Jeannette Kriesel
Das Abendbrot als Bühne der Kontrolle
Ich weiß nicht, wer das erfunden hat, aber irgendwo muss es stehen: „Eine gute Familie isst gemeinsam.“ Am besten jeden Abend. Am großen Tisch. Mit warmem Essen, wertschätzender Kommunikation und natürlich ohne Handy.
Klingt toll. Sieht in Werbespots auch super aus und funktioniert in echten Familien ungefähr so reibungslos wie eine Zahnwurzelbehandlung ohne Betäubung.
Denn die gemeinsame Mahlzeit ist für viele Familien kein Symbol der Verbundenheit, sondern der Überforderung. Und weil man das nun mal so macht, sitzen alle da, keiner ist wirklich präsent, und spätestens nach dem zweiten Bissen fängt das Verhör an.
Viele Eltern verwechseln Nähe mit Kontrolle. So wird die gemeinsame Mahlzeit zur Bühne, auf der man „Familie spielt“. Man sitzt zwar beieinander, aber kaum jemand begegnet sich, weil eigentlich gerade jeder sein eigenes Ding machen will.
„Und, wie war’s in der Schule?“
Die Mutter aller Smalltalk-Fallen. Eltern wollen’s wissen. Wie war der Tag, was war los, wie war Mathe, wie war der Lehrer, wie geht’s den Freunden? Aber die Frage „Wie war’s in der Schule?“ ist ungefähr so einladend wie eine endlos lange Foto-Show von Tante Giselas letztem Urlaub.
Kinder hassen diese Frage. Weil sie spüren, dass da oft kein echtes Interesse dahintersteckt. Meist geht’s gar nicht ums Zuhören, sondern ums Kontrollieren. Wir wollen sicherstellen, dass alles läuft. Das Kind spürt das und macht zu. Was Eltern dann als „zickig“ interpretieren, ist oft einfach Schutz vor weiteren Nachfragen, vor Bewertungen, vor Kommentaren wie:
„Ach, das war doch sicher gar nicht so schlimm!", „Vielleicht hast du’s nur falsch verstanden.“, "Hättest du dich halt ein bisschen mehr angestrengt.", "Dein Lehrer wird dich nicht grundlos ermahnt haben."
So entsteht aus einem harmlosen Abendessen immer wieder ein emotionales Minenfeld.
Wenn Nähe zur Pflichtveranstaltung wird
Viele Eltern bestehen auf dieses Ritual, weil sie glauben, es halte die Familie zusammen. Aber Zusammenhalt entsteht ja nicht durch Regeln sondern viel eher durch Resonanz.
Was bringt das schönste Abendessen, wenn alle mit hängenden Schultern dasitzen, vielleicht keiner so richtig Hunger hat und jeder gedanklich woanders ist? Kind 1 ist noch satt vom Snack nach der Schule, Kind 2 muss gleich zum Training, Papa kommt heute erst nach acht, Mama will eigentlich endlich mal einen Abend nur für sich und trotzdem sitzen alle da, weil man das so macht.
Echte Nähe entsteht nicht um 18:30 Uhr, sondern im Alltag, in Nebensätzen, in Momenten ohne Plan. Im Auto. Beim Wäscheaufhängen. Beim „Ich komm gleich, muss nur kurz aufs Klo“. Da, wo keiner versucht, pädagogisch zu sein.
Viele Eltern sehnen sich nach diesen Momenten des Austauschs, aber sie erzwingen sie auf die falsche Weise. Über Regeln statt über Resonanz. Kinder öffnen sich nicht, weil man sie mit Fragen löchert, sondern weil sie sich sicher fühlen. Und Sicherheit entsteht nicht am Esstisch, sondern im Alltag, durch Haltung, durch spürbare Präsenz.
Der pädagogische Esstisch: Ort des Grauens
Viele Familien haben einen Erziehungstisch, keinen Esstisch. Da wird kommentiert, korrigiert, verbessert, analysiert.
„Sitz bitte gerade.“, „Mach den Mund zu beim Kauen.“, „Kannst du mal vernünftig antworten?“, „Wie redest du mit deiner Schwester?“ Usw.
Zwischen Brokkoli und Bratkartoffeln geht’s plötzlich um Moral, Benehmen und Werte. Aber Kinder essen nicht gern mit Menschen, die ständig an ihnen rumerziehen. Sie essen gern mit Menschen, bei denen sie sie selbst sein dürfen.
Die Sehnsucht hinter dem Ritual
Wenn Eltern auf gemeinsamen Mahlzeiten bestehen, steckt meist eine Sehnsucht dahinter. Nach einem Moment, in dem sie alle beieinander haben, wo keiner am Handy hängt und man vielleicht fünf Minuten lang das Gefühl von Familie spürt. Das gemeinsame Essen wird dann zum Versuch, die eigene Leere zu füllen.
Wenn diese Sehnsucht unbewusst bleibt, wird sie zur Last. Dann laden Eltern ihre eigene Leere und emotionale Bedürftigkeit auf diesen Moment, wo ihre Kinder funktionieren und abliefern sollen: Ruhig sitzen, mitessen, nett sein, Geschichten, Harmonie, gute Laune, als wäre es eine emotionale Dienstleistung.
Und wenn sie’s nicht tun, kippt die Stimmung. Dann heißt es: „Ich gebe mir hier so viel Mühe, und euch interessiert das gar nicht!“ Und "Tada" wird das, was eigentlich verbinden sollte, zur emotionalen Geiselnahme.
Haltung statt Regel
Ich halte es auch hier, wie immer, mit dem Prinzip: Haltung statt Methode!
Ein gemeinsames Essen kann ganz wunderbar sein, wenn es freiwillig ist. Aber eine Verpflichtung, die Nähe erzwingen will, produziert Distanz. Wenn Kinder spüren, dass sie verpflichtet werden, „dabei zu sein“, schalten sie innerlich ab. Wenn sie merken, dass sie willkommen sind, aber nicht müssen, kommen sie irgendwann von selbst. Denn was bringt ein gemeinsames Essen, wenn jeder nur sein Zeit absitzt, Themen genervt abgehakt werden und das Ganze mit „Kannst du bitte mal ordentlich sitzen?!“ endet?
Und trotzdem sitzen viele Familien immer noch gemeinsam am Tisch, weil sich das eben gehört, während keiner Hunger hat. Nicht nach Essen, nicht nach Nähe, nicht nach Gesprächen. Nur nach Ruhe.
Und wenn Essen zur Stressquelle wird, verliert es seine ursprüngliche Funktion: Nahrung, Genuss, Verbindung. Kinder brauchen das Gefühl, dass sie sich beim Essen entspannen dürfen, nicht, dass sie dort funktionieren müssen.
Nähe entsteht in Freiheit
Wenn Kinder etwas erzählen wollen, tun sie es. Meist nicht, wenn man fragt, sondern wenn man schweigt. Nicht am Tisch, sondern beim Rumhängen, Autofahren, Einschlafen. Kinder öffnen sich nicht auf Kommando, sondern im Vertrauen, dass sie es dürfen. Ohne Konsequenz, Bewertung und Vortrag. Deshalb ist das beste Familienritual nicht das gemeinsame Abendbrot, sondern die Haltung: Ich bin da, wenn du mich brauchst. Und ich lass dich, wenn du Ruhe willst.
Essen ohne Drama Familienessen oder Folterabend?
Das gemeinsame Essen kann schön sein, wenn es freiwillig ist. Wenn nicht, ist es nett gemeint, aber seelisch ungenießbar.
Eltern verwechseln „Struktur“ oft mit „Sicherheit“. Aber echte Sicherheit entsteht nicht durch Regeln, sondern durch Verlässlichkeit. Ein Kind, das weiß, dass es mit allem kommen darf, auch mit Schweigen, braucht keine festen Essenszeiten, um sich geborgen zu fühlen.
Was, wenn wir das gemeinsame Essen einfach entlasten? Weniger Pflicht, mehr Begegnung. Weniger „Wir müssen mal wieder zusammensitzen“ und mehr „Schön, dass du da bist“.
Vielleicht sitzen wir dann nicht mehr jeden Tag zusammen, aber wenn, dann richtig gerne, mit echter Begegnung, echtem Interesse, echtem Hunger und echtem Lachen. Und wenn mal keiner redet, ist das auch okay. Manchmal ist Schweigen die ehrlichste Form von Zusammensein.
Und was, wenn das Kind nie kommt?
Dann kommt es eben nicht. Kinder, die sich sicher fühlen, müssen sich nicht ständig zeigen. Sie kommen, wenn sie was zu sagen haben.
Wer Vertrauen hat, braucht keine Kontrolle. Und wer Kontrolle braucht, hat kein Vertrauen. Also lieber weniger Zwang, mehr Präsenz. Lieber weniger Tischmanieren, mehr Menschlichkeit. Lieber eine echte Begegnung im Vorbeigehen als eine einstündige Zwangsbeschallung beim Abendessen.
Essen verbindet. Aber nur, wenn man nicht aneinander kaut. Gemeinsame Mahlzeiten sind kein Garant für Nähe. Sie sind nur ein Rahmen. Was darin passiert, entscheidet die Haltung.
Rituale sind stark, wenn sie verbinden. Aber sie verlieren ihre Kraft, sobald sie kontrollieren. Vielleicht ist das Abendessen gar kein Muss, sondern ein Angebot. Vielleicht ist das Schönste, was Eltern sagen können: „Du musst nicht mitessen. Aber du bist immer willkommen.“
Dann wird aus Pflicht Gemeinschaft. Und aus Erziehung Beziehung.
Text: Die gemeinsame Mahlzeit: Familienessen oder Folterabend? Jeannette Kriesel
gemeinsame Mahlzeit Familienessen
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