Wenn Kinder unter die Räder kommen
- Jeannette Kriesel
- vor 1 Tag
- 7 Min. Lesezeit
Ein Blick hinter die Kulissen von Bildungseinrichtungen

„Es sind nicht die Kinder, die schwierig sind. Es ist das System voller überforderter Erwachsener, die ihre ungelösten Konflikte auf sie abladen und das Ganze dann Bildungsarbeit nennen.“ Jeannette Kriesel
Systemversagen beginnt da, wo persönliche Verantwortung aufhört.
Dieser Text wird nicht allen gefallen. Er kratzt. Er stellt infrage. Vielleicht macht er wütend. Und das ist auch gut so! Denn ich bin auch wütend. Was tagtäglich in Schulen und Kitas passiert, ist nicht nur strukturelles Versagen, sondern ein Abreagieren auf dem Rücken von Kindern. Und manchmal frage mich ernsthaft, ob die pädagogisch ausgebildeten Menschen überhaupt merken, was sie da tun.
Ich schreibe das nicht aus zweiter Hand. Ich bin selbst Erzieherin. Und als Dienstleisterin bin ich täglich in verschiedenen Schulen und Kitas im Einsatz. Ich sehe mit eigenen Augen, was hinter den Kulissen passiert, jenseits der pädagogisch ausgefeilten Konzepte, die sich Einrichtungen auf die Fahnen schreiben. Und ich kann nicht länger still bleiben.
Disclaimer: Keine Pauschalurteile, aber klare Worte
Ich weiß, wie anspruchsvoll die Arbeit mit Kindern ist. Ich kenne die dramatischen Rahmenbedingungen, besonders in Großstädten. Ich weiß, dass viele Entscheidungen, die unser pädagogisches Handeln heute beeinflussen, politische Fehlentscheidungen der letzten Jahrzehnte sind.
Und ich sehe die vielen Pädagoginnen und Lehrer da draußen, die großartige Arbeit leisten, weil sie Kinder wirklich „sehen“ und alles geben, um ihnen Schutz, Orientierung und Beziehung zu bieten. Menschen, die oft über ihre Belastungsgrenzen hinaus gehen, um Veränderung möglich zu machen.
Aber: Und dieses ABER muss gesagt werden: Ich habe mir jahrelang das Gejammer meiner Kolleginnen angehört. „Der Senat ist scheiße. Die Leitung hat keine Ahnung. Die Eltern sind erziehungsunfähig. Die Kollegen sind weltfremd. Die Kinder sind anstrengend -kein Wunder bei den Eltern.“ Und warum ändert sich nichts?
Weil die meisten sich lieber wichtigmachen, indem sie meckern und verurteilen, statt zu handeln. Selbst wenn die Möglichkeit, etwas zu bewegen auf dem Silbertablett serviert wird. Streik? Keine Lust. Protest? Bringt ja eh nichts. Verantwortung übernehmen? Zu anspruchsvoll.
Ich schwöre, ich habe das selbst mehrfach erlebt: Lieber wird für die turnusmäßige Evaluation, die der pädagogischen Qualitätssicherung dient, alles im Power-Modus auf Picobello getrimmt. Sprachlerntagebücher werden auf den aktuellen Stand gebracht, die Portfolios der Kinder noch schnell mit gemalten Bildern und Fotos vom letzten Ausflug aufgefüllt und ein ausgeklügeltes Angebot konzipiert, dass man dann aus dem Ärmel schüttelt, für den Fall, dass die Evaluation in der eigenen Gruppe stattfindet. Ganz großes Kino! Mit dem Effekt, dass die, die diese Missstände aufzeigen könnten, so tun, als würde alle bestens laufen, indem sie genau das für den Moment auch vorgaukeln. Und danach? Danach reden sie wieder darüber, wie beschissen die Umstände sind, unter denen sie arbeiten müssen. Leute… echt jetzt?
Wer ständig nur klagt, aber nichts tut, ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.
Eine Szene, wie sie nicht selten vorkommt
Da wird die eigene Frustration, der Druck und die Überforderung direkt auf die Kinder abgeladen. Ein Beispiel, das mir nicht mehr aus dem Kopf geht: Ein frisch eingeschulter Erstklässler wird in der Mensa, vor versammelter Mannschaft, massiv angeschrien. Von der leitenden pädagogischen Fachkraft! Der Raum war voll: Kinder, Küchenpersonal, Lehrer, Erzieher. Und dieser kleine Junge musste sich diese öffentliche Demütigung gefallen lassen, nur weil er in ihren Augen irgendetwas falsch gemacht hatte. Ein waschechter Kontrollverlust auf Kosten des Kindes. Der ganze Raum war still, während sie unaufhörlich auf diesen kleinen Jungen einschrie. Wie resilient muss ein Kind sein, um so eine Erfahrung einfach wegzustecken? Und selbst wenn, wie viel Lust auf Schule bleibt da noch? Ich bin mir ziemlich sicher, dass das für diesen Jungen ein traumatischer Moment war.
Und was sagen eigentlich die Eltern?
Was würden wohl die Eltern dieses Jungen dazu sagen? Wären sie empört? Würden sie ein Gespräch suchen, in dem sich die leitende Erzieherin (vielleicht sogar aufrichtig) entschuldigen könnte, damit es aufgearbeitet und abgehakt werden kann?
Oder würden sie sagen: „Du wirst ihr schon einen Grund gegeben haben, dass sie so reagiert hat.“ Oder: „Ach komm, das war sicher nicht so schlimm, wie du es erzählst. Meine Lehrerin hat damals ihren Schlüsselbund nach mir geworfen.“
Ja, und was lernt der Junge daraus? Ganz sicher nichts, was ihn in seiner Entwicklung stärkt. Denn es ist vollkommen egal, wie jemand anderes die Situation bewertet hätte, entscheidend ist, wie der Junge sie empfunden hat.
Keine Ausnahme, sondern gängige Praxis
In Kitas sieht es oft nicht besser aus. Kinder werden ständig reglementiert. Mach den Teller nicht so voll. Du musst mehr essen, du bist zu dünn. Stell den Teller anders hin, halt das Besteck so, sei leise, sitz still, Hände auf den Tisch. Sie dürfen dies nicht anfassen, sollen dort nicht hingehen, müssen auf das hören, was gesagt wird. Da wird ein ständiges Korrigieren und Maßregeln als Erziehung verkauft. Aber was bleibt hängen? Kinder lernen, dass sie so, wie sie sind, nicht okay sind. Dass sie ständig irgendwas falsch machen. Überall mischen sich Erwachsene ungefragt ein und korrigieren jede Kleinigkeit. Kinder dürfen nicht einfach sie selbst sein, ohne dass jemand ihnen sagt, wie etwas "richtig" ist. Das fängt bei so simplen Dingen an wie dem korrekten Halten des Bestecks (als ob sich Kinder nicht selbst korrigieren könnten) und hört bei den absurdesten Regeln auf, wie beispielsweise das Verbot im Garten mit Stöckern zu spielen. Jepp, kann ins Auge gehen, richtig. Aber solch ein Verbot ist meinen Augen genau so dämlich, wie das Autofahren für alle zu verbieten, weil es manchmal Unfälle gibt.
Wir sprechen Kindern einfach vorsorglich Kompetenzen ab. Zur Sicherheit. Läuft.
Irgendwann resignieren Kinder und ziehen sich entweder zurück und werden immer stiller oder sie rebellieren, werden aufmüpfig und unbequem, wo wir dann plötzlich, welch Überraschung, gerne im Bereich der Verhaltensauffälligkeiten oder Störungen herumdiagnostizieren. Dabei ist es oft nichts anderes als das Resultat ständiger Bevormundung, fehlendem Vertrauen und echter Wertschätzung.
Mit Erwachsenen würden wir so nicht umgehen. Bei Kindern ist das alles halb so wild. Warum ist das so? Ich verstehe es nicht!
Und sonst so? Wenn Kinder unter die Räder kommen
Wir erwarten von Kindern eine Dankbarkeit und Höflichkeit, die wir ihnen selbst selten entgegenbringen. Halten Kinder uns die Tür auf, ist das eine Frage des Respekts des Kindes dem Erwachsenen gegenüber. Tut das ein anderer Erwachsener für uns, ist es kein Problem freundlich „Danke“ zu sagen. Wir erwarten, dass Kinder funktionieren, und übersehen dabei, dass wir selbst niemals so mit anderen Erwachsenen umgehen würden. Dieses ständige Maßregeln und Kleinmachen führt dazu, dass Kinder sich irgendwann selbst nicht mehr leiden können.
Kinder werden von ihren Müttern an den Armen weggezerrt, wenn sie im Laden Dinge berühren, beschnuppern, überprüfen möchten, die genau zu diesem Zweck gedacht sind. Was soll das? Sie dürfen nicht einfach neugierig sein, ohne dass man sie dafür maßregelt. Und dann wundern wir uns, warum sie irgendwann aufhören, Fragen zu stellen und kaum noch Bock haben ihr Umfeld zu erkunden. Wenn Kinder unter die Räder kommen
Beziehungsorientierung beginnt nicht beim Kind
Natürlich gibt es haufenweise Erwachsene, die anderen Erwachsenen gegenüber grundsätzlich rücksichtslos handeln, aber um die geht es hier gerade nicht. Und trotzdem, weil es gerade so gut passt, will ich an dieser Stelle eine Frage stellen: Was hat diese Menschen so hart gemacht? Was ist passiert, dass so viele lieber abwerten als „hinzufühlen“?
Aber zurück zu dem, was ich eigentlich sagen will: Es geht um die Diskrepanz zwischen dem, was viele pädagogisch Tätige von sich behaupten, und dem, wie sie im Alltag wirklich mit Kindern umgehen. Sie nehmen einmal eine gewisse Haltung ein und bleiben dabei. Chronische Kompetenz eben.
Und dann lass mal jemanden um die Ecke kommen, der eine andere Haltung hat… Am unangenehmsten, für die chronisch Kompetenten, sind dann die, die sich selbst und ihren Umgang mit Kindern regelmäßig reflektieren, sich weiterentwickeln und neue Ideen ins Feld bringen und das auch noch zum Wohl der Kinder. Her je, wo kommen wir denn da hin? Und wo würden wir eigentlich hinkommen, wenn wir doch mal aus Versehen loslaufen?
Es sollte jedenfalls klar sein, dass wir Kindern nicht vorleben können, was wir selbst nicht verinnerlicht haben. Da können wir noch so sehr darauf bestehen, dass die verdammte Gabel links liegt. Wenn wir nicht bereit sind, uns selbst infrage zu stellen, wie können wir dann von Kindern erwarten, dass sie sich reflektieren?
Es ist höchste Zeit, dass wir umdenken und Kindern den Respekt entgegenbringen, den wir auch von anderen erwarten. Nur so können wir eine Umgebung schaffen, in der Kinder wirklich liebevoll und wertgeschätzt wachsen und sich entfalten können.
Damit aufzuhören, unseren alten, unverarbeiteten Mist über Kindern auszukippen, wäre ein guter Anfang. Denn, wer seinen Müll nicht regelmäßig entsorgt, kippt ihn irgendwann anderen vor die Füße. Und leider zu oft auf die, die sich am wenigsten davor schützen können.
Vor der eigenen Haustür kehren, aber richtig
„Wenn jeder vor seiner eigenen Haustür kehrt, ist es überall sauber.“
Das heißt nicht: Hauptsache, ICH komme durch. Es heißt nicht: Rücksichtslos die eigenen Interessen durchdrücken.
Es heißt: Hör auf, über andere zu urteilen und fang bei dir selbst an. Schau, was du denkst. Wie du fühlst. Was du tust. Nicht zur Selbstoptimierung. Sondern zur Selbsterkenntnis.
Das beginnt damit, dass man sich selbst beobachtet. Mitten im Gedankenstrom innehält und checkt: „Ups, was war das denn gerade für ein Gedanke?“ Nicht, um sich dafür fertigzumachen. Sondern, um sich auf die Schliche zu kommen.
Was Kinder wirklich brauchen
Kinder brauchen keine perfekten Erwachsenen. Sie brauchen Echte. Menschen, die sich entschuldigen können. Die sagen: „Das war nicht okay von mir.“ Die zeigen, wie man mit Fehlern, Gefühlen und Überforderung verantwortungsvoll umgeht.
Nicht als pädagogische Performance, sondern aus echter innerer Haltung heraus.
Wenn wir wirklich beziehungsorientiert arbeiten wollen, dann fängt das nicht beim Kind an. Es fängt bei uns an. In dem wir unseren Job als Schutzbefohlene mal ernst nehmen und Macht nicht gegen, sondern für Kinder einsetzen.
Wenn wir nicht laut werden, wer dann?
Dieser Text wird manchen sauer aufstoßen. Das ist okay. Denn solange wir lieber schweigen, um niemanden zu kränken, kränken wir weiter still und systematisch Kinderseelen.
Deshalb: Lasst uns unbequem sein. Lasst uns ehrlich hinschauen. Lasst uns endlich anfangen, Verantwortung zu übernehmen. Jeder für sich! Nicht morgen. Jetzt.
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