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Konzentration

  • Autorenbild: Dietmar Sattler
    Dietmar Sattler
  • 19. Nov.
  • 8 Min. Lesezeit

Hilfreiches Wissen für Eltern und alle die Kinder begleiten


Ein Text von Dietmar Sattler


Mädchen mit geschlossenen Augen, dass meditiert

Immer mehr Kinder kommen mit der Diagnose „Konzentrationsstörung“ oder Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS) in ergotherapeutische Praxen. Der Verdacht entsteht meist im Umfeld: Erzieherinnen, Lehrer oder seltener auch Eltern beobachten auffälliges Verhalten und äußern den Verdacht. Anschließend führen Kinderärzte, Psychiater oder Psychologen verschiedene Tests durch.

 

Vor allem Schulkinder zeigen typische Symptome: Sie sind im Sitzen unruhig, lassen sich schnell ablenken oder wirken geistig abwesend. Andere erscheinen eher verträumt (ADS) und sind schwer in der Gegenwart zu halten. Diese Kinder interessieren sich für alles, nur nicht für die Unterrichtsinhalte. Immer häufiger werden dann Medikamente empfohlen, um das als „störend“ empfundene Verhalten zu regulieren.

 

Was bedeutet Konzentration?

Kurz gesagt: Ich richte meine Aufmerksamkeit auf einen Punkt, eine Sache oder ein Ziel.

 

Und was heißt eigentlich Aufmerksamkeit? Die Erklärungen dazu sind vielfältig und oft sehr umfangreich. Eine einfache Fassung lautet:

 

Unser Gehirn verarbeitet pro Sekunde etwa 11 Millionen Sinneseindrücke. Bewusst nehmen wir davon nur rund 40 wahr. (Und ja, die berechtigte Frage bleibt: Wer hat das eigentlich gezählt?) Vierzig Eindrücke pro Sekunde ergeben 2400 pro Minute – immer noch eine ganze Menge Holz. Diese Informationen erreichen uns über unsere Sinne:

 

  • Sehen

  • Hören

  • Riechen

  • Schmecken

  • Gleichgewichtssinn

  • Bewegungs- und Tastsinn

 

Dazu kommt noch ein achter Sinn, der uns Vorgänge im Körperinneren spüren lässt, der sogenannte viszerale Sinn. Unser Gehirn arbeitet also wie ein Hochleistungsfilter. Ohne diese Filterung wären wir hoffnungslos überfordert. Bei elf Millionen Reizen pro Sekunde kein Wunder.

 

Vereinfacht gesagt: Aufmerksamkeit ist Wachheit, die Fähigkeit, wahrzunehmen, was um uns herum passiert. Konzentration ist die zielgerichtete Form dieser Aufmerksamkeit.

 

Sinneswahrnehmung und Bewegung gehören dabei immer zusammen. Das klingt theoretisch, ist aber die ergotherapeutische Grundlage, um Lernen und Verhalten besser zu verstehen.

 

Warum nehmen Konzentrationsprobleme zu?

Aus neutraler Sicht gibt es drei mögliche Ursachen:

  1. Die Kinder selbst haben Probleme.

  2. Die Kinder werden heute intensiver untersucht.

  3. Die Lern- und Lebensbedingungen haben sich verändert.

 

Wenn Punkt 1 stimmt, dann bedeutet das: Kinder werden zunehmend krank. Tatsächlich zeigen Statistiken seit rund drei Jahrzehnten einen deutlichen Anstieg von Bewegungs- und Sprachstörungen. Das lässt sich auch praktisch beobachten: Die Wartezeiten in Ergo- und Logopädie-Praxen sind enorm.


Um die Jahrtausendwende war das noch anders. Wir mussten damals manchmal sogar um ausreichend Kinder für die Therapiezeiten kämpfen. Heute sind die Praxen überfüllt. Auch Allergien, Autoimmunerkrankungen und autistische Verhaltensweisen treten häufiger auf. Spätestens seit den Corona-Jahren sind psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen regelrecht explodiert. In meiner Kindheit war ein Arztbesuch eine Seltenheit. Niemand kannte Allergien, zumindest nicht in meinem Umfeld.

 

Bewegung verschwindet – Bildschirme übernehmen

Was sich in den letzten 30 Jahren deutlich verändert hat, ist die Lebenswelt der Kinder. Mehr Bildschirmzeit, weniger Bewegung. Spielende Kinder auf Straßen, Wiesen oder Spielplätzen sind zur Ausnahme geworden. Freies Spiel mit Gleichaltrigen, ohne Aufsicht, ohne Bewertung, das gibt es kaum noch.


An seine Stelle sind Vereine, Betreuungseinrichtungen und unzählige „Förderprogramme“ getreten. Doch das freie Spiel war das, was Kinder wirklich gebraucht haben: eigene Entdeckung, echtes Interesse, lebendiges Lernen.

 

Wenn Hände nichts mehr lernen dürfen

Zunehmende motorische Defizite, besonders in der Feinmotorik, sprechen eine deutliche Sprache. Eine Hand, die in der Erde wühlt, Stöcke schnitzt, Steine stapelt oder mit Werkzeug hantiert, lernt von selbst. Sie wird stark, geschickt, bereit für die größte feinmotorische Herausforderung: das Schreiben.

 

Ein Kind, das diese Erfahrungen nie machen durfte, kämpft mit der Stifthaltung, der Führung, dem Tempo. Wie soll es sich konzentrieren, wenn allein das Schreiben zur Daueranstrengung wird?

 

Ich bin überzeugt: Wären wir uns bewusst, wie effektiv Kinder früher durch Nachahmung und eigenes Tun gelernt haben, wir hätten nie zugelassen, dass ihre Welt so unbeweglich und künstlich wird. Was wir heute Fortschritt nennen, hat ihnen viele ihrer natürlichen Lernwege genommen, und mit ihnen ein Stück Konzentration.

 

Mit den Fingern drücken und wischen: unterstes Feinmotorik-Niveau

Im Gehirn ist ein erheblicher Bereich für die Bewegung der Hände reserviert. Wortwörtlich hat der Mensch seine Welt „begreifen“ gelernt. Wenn die Hände seltener, weniger fein und abwechslungsreich gebraucht werden, verkleinern sich diese Hirnareale, schlicht durch mangelnde Beanspruchung. Welche Folgen das für Intellekt und Seele hat, können wir nur erahnen.

 

Vielleicht stimmt auch Punkt 2

Möglicherweise werden heute tatsächlich mehr Kinder erfasst, weil Ärzte und Psychologen häufiger Tests durchführen. Zusätzlich füllen Lehrkräfte und Eltern Verhaltensfragebögen aus, die in die Bewertung einfließen. Diese Verfahren sind jedoch alles andere als eindeutig. Anders als bei einem Knochenbruch ist es in der Psychologie kaum möglich, feste Größen oder Maßstäbe für menschliches Verhalten zu bestimmen.

 

Wie so oft werden Durchschnittswerte gebildet: Man misst eine bestimmte Anzahl von Menschen, errechnet einen Mittelwert. Und dieser gilt dann als Norm.

 

Ein übertriebenes Beispiel: Wenn die Mehrheit einer Bevölkerung übergewichtig ist, erscheint das Übergewicht plötzlich als normal und der Schlanke als Abweichung.

 

Wenn Wissenschaft zum Geschäft wird

Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Immer mehr wissenschaftliche Studien werden nicht unabhängig finanziert, sondern von Firmen, deren Ziel nachvollziehbarerweise Gewinn ist. Für mich hat das ein „Gschmäckle“, wie man im Süden sagt, ganz nach dem alten Sprichwort: „Wessen Brot ich ess’, dessen Lied ich sing.“

 

ADHS oder einfach Menschsein?

Von ADHS heißt es, betroffene Kinder könnten sich zwar auf Dinge konzentrieren, die sie interessieren, aber nicht ausreichend lange auf das, was sie müssen. Ich denke mir: Willkommen im Club! Mir geht es genauso. Ich könnte also auch als betroffen gelten.

 

Natürlich kann ich mich als Erwachsener besser disziplinieren, weil ich Zusammenhänge erkenne und gelernt habe, mich für Ziele zu motivieren. Ein Grundschulkind kann das noch nicht. Und das ist keine Störung, sondern Entwicklungsrealität.

 

Werden die Ursachen überhaupt richtig erfasst?

Mögliche Gründe für Konzentrationsprobleme sind vielfältig:

  • Überforderung durch Lerninhalte, wenn motorische, sensorische oder sprachliche Voraussetzungen fehlen

  • Zu frühe Einschulung, orientiert am Geburtsdatum statt an der Entwicklung

  • Unterforderung, wenn Kinder zu schnell lernen und sich langweilen

  • Mangelndes Interesse, weil Inhalte keinen Sinn ergeben oder zu wenig Neugier wecken

  • Ängste und Sorgen, etwa vor Fehlern, Prüfungen oder familiären Belastungen

  • Körperliche oder seelische Erkrankungen, etwa Hautprobleme, Immunschwäche oder depressive Verstimmungen infolge von Dauerstress

  • Zu wenig Bewegung, zu wenig praktisches Lernen durch Anfassen und Ausprobieren

  • Erfahrungen von Missbrauch oder Gewalt

  • Suchtmittel- oder Medienkonsum

  • Zuckerreiche Ernährung, die kurzfristig Energie gibt, aber schnell in Unterzuckerung und Konzentrationsabfall mündet

  • Nicht altersgerechte Lernsituationen, die Über- oder Unterforderung erzeugen

  • Entmutigung durch ständige Bewertung, die den Glaubenssatz „Ich bin zu dumm“ verankert

 

Und sicher gibt es noch weitere Gründe.

 

Punkt 3: Könnte die Unterrichtssituation die Ursache sein?

Ich bin überzeugt: Sie hätten ebenfalls Anzeichen einer „Aufmerksamkeitsstörung“, wenn ich Sie zwei Stunden lang zwingen würde, mir beim Vorlesen aus dem Telefonbuch zuzuhören.

 

Sie würden auf dem Stuhl zappeln, träumen, mit dem Nachbarn reden, vielleicht einschlafen. Und wenn ich Sie am Ende prüfen würde, könnten Sie vermutlich kaum Namen korrekt nennen. Vielleicht würden Sie sich sogar fragen, sofern Sie sich trauen, laut zu fragen, warum Sie das überhaupt lernen sollen.


Meine Antwort wäre: „Weil es im Therapieplan steht. Außerdem fördert es Ihre Allgemeinbildung, damit sind Sie bei ‚Wer wird Millionär?‘ bestens vorbereitet.“

 

Ich könnte den Druck noch erhöhen, indem ich am Ende einen Test schreibe, die Ergebnisse bewerte und den Notenspiegel veröffentliche. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie das Ergebnis auch noch Ihrem Kind zeigen müssten?

 

Und jetzt die entscheidende Frage: Was hätten Sie wirklich gelernt? Vielleicht, still zu sitzen. Oder, brav zu funktionieren. Aber sicher nicht, sich erfüllt oder lebendig zu fühlen.

 

Ist Ihnen der Unterschied zwischen „Pauken“ und „natürlichem Lernen“ bewusst? 

Haben Sie schon einmal eine Hasenmama gesehen, die auf einem Baumstamm sitzt und ihren Jungen erklärt, welche Pflanzen essbar sind und wie man bei Gefahr einen Haken schlägt? Nein? Ich auch nicht. Warum auch?


Die kleinen Hasen lernen am besten, indem sie tun, was Mama tut. Sie zeigt keine Bilder von Tigern oder Löwen, diese Feinde gibt es hier nicht. Aber sobald sich der Bussard am Himmel zeigt, rennt sie los. Einfach, klar, nachvollziehbar. So lernen die Jungen, was im Leben draußen wichtig ist. Vielleicht gibt es ja auch in der Hasenwelt inzwischen ADHS-Fälle. Und wenn der Fuchs mal einen erwischt, hatte das Langohr sicher eine Aufmerksamkeitsstörung. Ich frage bei Gelegenheit den Osterhasen.

 

 

Natürlich lernen oder auswendig pauken?

Klingt nach einem merkwürdigen Vergleich? Mag sein. Aber stellen Sie sich Ihren Drittklässler vor: Vier Stunden sitzt er still, unterbrochen nur von einer viel zu kurzen Pause. Sein Körper will sich bewegen, sein Geist auch. Jetzt soll er sich auf Mozart konzentrieren. Geburts- und Todestag, Werkzahlen, Fachbegriffe. Vielleicht wird noch eine Sinfonie angespielt. Hoffentlich.


Doch was interessiert das einen Achtjährigen? Er darf die spannenden Fragen gar nicht stellen: Wie war Mozarts Kindheit? Hat er sich manchmal gewünscht, einfach mit anderen Jungs herumzutollen, statt Konzerte zu geben? Gab’s bei ihm auch so was wie Fanclubs? Und wann, bitte, war der eigentlich in der Schule? So bleibt das Lernen fremd. Es geht ums Wiedergeben, nicht ums Verstehen.

 

Natürliches Lernen. Das älteste Erfolgsmodell der Welt

Seit Jahrtausenden lernen Menschen am besten durch eigenes Tun: durch Nachahmen, Probieren, Fehler machen, Wiederholen. Mit Bewegung, mit allen Sinnen, mit Begeisterung. Das Neue baut immer auf dem Alten auf und jeder Mensch auf seine Weise. So wird Lernen zum Spiel, nicht zur Mühsal. Jede neue Fähigkeit erzeugt Freude, und Freude ist der beste Dünger fürs Gehirn. Wenn Begeisterung fließt, fließen auch die Botenstoffe. Das Gehirn läuft auf Hochtouren, bildet neue Zellen. Aufmerksamkeit und Konzentration entstehen von selbst, ganz ohne Zwang.

 

Lernen beginnt im Kinderwagen

Vielleicht kennen Sie diese Szene: Ihr Kind sitzt im Kinderwagen und wirft zum hundertsten Mal sein Spielzeug auf den Boden. Sie heben es genervt auf und zack, fliegt es wieder. Sie denken: „Will mich das Kind ärgern?“Nein. Es trainiert gerade sein Leben. Ihr Kind übt, den Arm zu kontrollieren, die Hand im richtigen Moment zu öffnen, den Flug des Gegenstands mit den Augen zu verfolgen. Es schult räumliches Sehen, akustische Wahrnehmung, Formkonstanz und Tiefenwahrnehmung. Und ganz nebenbei lernt es: Ich kann etwas bewirken.


Zum Beispiel: Mama lächelt, also gleich nochmal! Alle bisher erlernten Fähigkeiten stecken in diesem Wurf. Kindliches Spiel ist Training pur.

 

Spielen ist Lernen, und das hört nie auf

Als Erwachsene trennen wir Arbeit und Spiel, und das ist schade. Denn auch wir lernen über Bewegung, über Begeisterung, über Wiederholung. Warum spielen Millionen Menschen Fußball? Weil es Spaß macht, Fähigkeiten fordert und verbindet.


Selbst beim Eigentor lernen wir etwas und spielen weiter. Natürliches Lernen fühlt sich immer wie Spiel an. „Pauken“ dagegen bedeutet Mühsal. Es heißt: Ich muss etwas auswendig lernen, weil jemand anderes es für wichtig hält. Ich erkenne den Sinn nicht, also brauche ich Druck. Das Gehirn arbeitet dann unter Zwang. Das Wissen bleibt nur so lange abrufbar, bis der Test vorbei ist -das berühmte „Bulimie-Lernen“.

 

Lernen funktioniert nicht gegen den Menschen

Wiederholung speichert auch Unsinn, sogar schädliche Inhalte. Deshalb funktioniert Werbung so gut, genauso wie Propaganda. Wer oft genug dasselbe hört, glaubt es irgendwann. Besonders, wenn die Quelle Vertrauen genießt. Nur wer wach bleibt, zweifelt und prüft, kann sich davor schützen. Angst ist dabei der schlechteste Lehrer, aber der effektivste Verkäufer.

 

Resümee

Konzentration und Aufmerksamkeit sind Grundvoraussetzungen für Lernen und für Leben. Wenn Schüler dem Unterricht nicht folgen, sind sie meist weder unaufmerksam noch gestört. Sie haben ihre Aufmerksamkeit einfach auf etwas anderes gerichtet. Denn Menschen lernen am besten in Bewegung und mit allen Sinnen. Alles, was sich bewegt, ist automatisch interessanter.


Hängen Sie einen Zettel mit Regeln an die Wand, wird er bald zur Tapete. Würde er hüpfen und tanzen, würde er die Aufmerksamkeit halten. Vielleicht sollten Sie als Eltern öfter mal hüpfen und tanzen. Dann würden Ihre Kinder garantiert hinschauen und vielleicht fragen sie dann: „Warum machst du das?“ Und Sie könnten antworten: „Weil es dich gibt, mein Schatz.“


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Alle meine Texte sind Ausdruck meines aktuellen Wissens- und Erfahrungsstandes, meiner Schlussfolgerungen, als Ergotherapeut, Vater und Mensch.


Dietmar Sattler



 
 
 

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