Frei von Trauma? Schlaf weiter!
- Jeannette Kriesel

- 12. Sept.
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 19. Nov.
Oder: Wie du glaubst, alles im Griff zu haben, während dein Nervensystem sich kaputtlacht.

„Jedes Verhalten hat eine Geschichte. Wer sie ignoriert, verurteilt nur, weil’s bequemer ist als hinzusehen.“ Jeannette Kriesel
Wir haben noch immer diese verstaubte 90er-Jahre-Denke im Kopf. Trauma, das sind doch nur Krieg, Vergewaltigung, Naturkatastrophen. In kurz: Das ganz große Grauen. Alles andere ist „ein bisschen sensibel“ oder „überempfindlich“. Und genau dieses Schwarz-Weiß-Denken sorgt dafür, dass Millionen Menschen ihre „Leichen im Keller“ ignorieren und dann völlig überrascht sind, wenn diese Dinger plötzlich anfangen, mitten im Alltag aus der Kiste zu springen.
Die schiefe Geburt der Trauma-Forschung
Erster Weltkrieg: Soldaten kommen zurück und zittern unkontrolliert. „Kriegszitterer“ nennt man sie, als wären sie eine Panne im System. Das Militär fragt nicht: „Wie helfen wir diesen Männern?“, sondern: „Wie kriegen wir sie schneller zurück an die Front?“ Forschung aus purem Eigennutz. Menschlichkeit? Fehlanzeige.
Dann kam Freud, der anfangs den Zusammenhang zwischen Missbrauch und den „Hysterie“-Symptomen seiner Patientinnen klar benannte. Blöd nur, dass seine männlichen Kollegen allergisch auf die Vorstellung reagierten, dass Onkel Gustav oder Papa Karl-Friedrich vielleicht keine so netten Familienmenschen, sondern Täter waren.
Freud zog seine These zurück, erdachte stattdessen den Ödipuskomplex und schrieb damit eine jahrzehntelange Schuldumkehr ins kulturelle Gedächtnis, weil er den Blick auf sexuelle Gewalt verdrehte, indem er behauptete, dass Kinder sich den sexuellen Kontakt angeblich insgeheim wünschten.
Klingt irre? Bis heute hallt dieser Mist nach, wenn Betroffene gefragt werden: „Was hattest du denn an?“ Subtext: „Vielleicht hast du’s ja provoziert.“ Als ob ein Rock oder eine Jeans über Zustimmung entscheidet. Freud lebt weiter. Leider.
Die offiziellen Definitionen: zu eng, zu blind, zu bequem
Bis heute definieren die medizinischen Bibeln ICD-10, ICD-11, Trauma fast ausschließlich als Folge „extrem bedrohlicher oder schrecklicher Ereignisse“. Dazu gehören Krieg, Vergewaltigung, schwere Unfälle, also wieder nur der Mega-Brocken, also das, was man als „großes Ding“ verkauft.
Problem eins: Millionen seelische Verletzungen fallen durch dieses Raster, weil es unzählige alltägliche, tief verletzende Erfahrungen ausschließt.
Problem zwei: Es blendet aus, dass Trauma nicht im Ereignis selbst entsteht, sondern im Nervensystem.
Wenn es nicht um Leib und Leben geht, gilt’s offiziell oft nicht als Trauma. Kinder, die schon als Babys Gewalt erlebt haben, bekommen noch immer gesagt, dass sie „nicht traumatisiert sein können“, weil sie zu jung waren, um sich zu erinnern. Als ob das Nervensystem abwartet, bevor es Stress abspeichert. Wir wissen doch längst, dass das bereits im Mutterleib passieren kann.
Unser Verständnis ist steinzeitlich
Wir hängen an einem Denkmodell, das grob gesagt lautet: Trauma = großes Ereignis + sichtbare Symptome. Alles, was nicht in dieses Schema passt, wird abgetan. Das ist ungefähr so, als würdest du nur dann einen gebrochenen Arm behandeln, wenn der Knochen aus der Haut ragt. Alles andere? „Wird schon wieder.“
In Wahrheit ist Trauma hochgradig subjektiv. Zwei Menschen können dasselbe erleben. Einer steckt es weg, der andere trägt die Auswirkungen für den Rest seines Lebens im Nervensystem. Das hängt von vielen Faktoren ab. Resilienz, Bindungserfahrungen, Weltbild, Unterstützung. Es hängt auch davon ab, wie voll dein inneres „Stress-Fass“ schon ist. Wenn’s überläuft, reicht manchmal ein dummer Spruch, damit du explodierst. Aber wir kleben dann lieber Etiketten wie „dissozial“, „ADHS“ oder „überempfindlich“ drauf, statt zu fragen, was da eigentlich vorher schon alles im Fass gelandet ist? Wir verwechseln das sichtbare Symptom mit der eigentlichen Ursache. Das ist wie einen Rauchmelder ausschalten, während es im Keller fröhlich weiter brennt.
Die Psychologie der Grundbedürfnisse und wie Trauma sie zerlegt
Wir Menschen haben vier psychische Grundbedürfnisse.
Das Gefühl, das eigene Leben lenken zu können (Kontrolle & Selbstbestimmung)
Nähe, Zugehörigkeit, verlässliche Beziehungen (Bindung)
Sich als kompetent, wertvoll und „okay“ empfinden (Selbstwert).
Freude suchen, Leid vermeiden (Lustgewinn & Schmerzvermeidung).
Trauma ist fast immer ein Erdbeben, das diese Fundamente zum Wanken bringt, eine radikale Verletzung mehrerer dieser Bedürfnisse gleichzeitig und dein Selbstbild wankt. Sätze wie „Ich bin nicht sicher“, „Ich bin nichts wert“ oder „Ich kann niemandem vertrauen“ werden zu Grundüberzeugungen. Und von da an filtert dein Nervensystem jede neue Erfahrung durch diese Linse. Rate mal, was dabei rauskommt? Mehr Misstrauen, mehr Angst, mehr Selbstzweifel. Das fühlt sich kurzfristig wie Schutz an, ist langfristig aber ein Selbstsabotageprogramm erster Güte.
Der Körper vergisst nichts
Trauma entsteht im Nervensystem, nicht im Ereignis. Dein Körper ist der Festplattenspeicher, der keine Löschfunktion hat. Vielleicht denkst du, du hättest etwas „gut weggesteckt“. In Wahrheit hat dein Nervensystem in Sekundenbruchteilen beschlossen: „Ab jetzt gehen wir nicht mehr in diese Richtung.“ Höhenangst, Beziehungsangst, plötzliche Wut, all das kann das Echo einer Situation sein, die du bewusst längst vergessen hast.
Die Biochemie des Ausnahmezustands
Wer verstehen will, warum man in bestimmten Momenten „wie ferngesteuert“ reagiert, muss das Zusammenspiel von Stammhirn/Reptiliengehirn (steuert Reflexe, sichert Überleben), limbischem System (bewertet Gefahr und Lust) und präfrontalem Kortex (Logik, Sprache, soziale Kompetenz) kennen. Im Notfall zieht das Reptiliengehirn den Stecker beim präfrontalen Kortex. Logik, Sprache, soziale Kompetenz? Offline. Vernunft aus, Panik an. Dafür volle Power auf Überleben: Herzrasen, Schweißausbrüche, Tunnelblick. Sinnvoll bei echten Gefahren, absurd, wenn dein Körper den Streit mit dem Chef für einen Angriff auf Leben und Tod hält. Aber dein Körper kennt den Unterschied nicht, wenn der Trigger alt und tief genug sitzt.
Heiße-kalte Erinnerungen und warum Trigger so gnadenlos sind
Kalte Erinnerungen sind brav chronologisch, erzählbar, handzahm. Heiße Erinnerungen sind wie scharfe Glassplitter: fragmentiert, emotional geladen, unkontrollierbar. Die Amygdala, dein Frühwarnsystem, speichert sie als Gefahr. Triggert ein Reiz diese Erinnerung, bist du sofort wieder mittendrin, als wäre es gestern passiert. Dein Körper zieht das volle Notfallprogramm durch, auch wenn’s „nur“ der Tonfall von jemandem ist, der zufällig klingt wie dein aggressiver Vater. Kein „Ich weiß, das ist von damals“, kein „Ich atme jetzt mal durch“. Du bist im Film. Deshalb ist Vermeidung so beliebt! Kein Hund, keine Gefahr. Kein Streit, keine Panik. Aber der Preis ist hoch, denn dein Leben wird kleiner.
Glaubenssätze sind die Trojanischen Pferde im Kopf
Jeder unverarbeitete Stress hämmert einen Glaubenssatz in dein Hirn. „Ich bin dumm.“ „Ich bin wertlos.“ „Ich bin schuld.“ Sie tarnen sich als Selbstschutz, sind aber in Wahrheit deine Fesseln. Du gehst nicht mehr ans Mikro, weil dich mal jemand ausgelacht hat. Du lässt Chancen liegen, weil du dich für nicht geeignet hältst. Das beschissene daran ist, dass diese Sätze nicht in der Situation bleiben, in der sie entstanden sind. Diese Glaubenssätze werden oft so global, dass sie dein gesamtes Selbstbild unterwandern und jeden deiner Schritte steuern.
Jedes Verhalten hat einen Grund
Kein Spross wird als Arschloch-Kind geboren. Kein Erwachsener entscheidet morgens, heute mal gezielt asozial zu sein. Verhalten ist immer Kommunikation. Mal laut, mal leise, mal so ungeschickt, dass es wie reine Provokation aussieht. Gerade Kinder können nicht sagen: „Entschuldigung, ich habe hier eine unbearbeitete Traumafolge aus dem dritten Lebensjahr.“ Sie zeigen es dir mit ihrem Verhalten. Wer das ignoriert, verpasst die Chance, das eigentliche Problem zu lösen. Dann fragst du nämlich nicht mehr: „Was stimmt denn nicht mit dir?“, sondern: „Was ist dir passiert?“ Und das ist der Unterschied zwischen Bewertung und Verstehen.
Solange du deine „Leichen im Keller“ nicht kennst, steuerst du im Autopiloten. Denn wenn dein Nervensystem bei bestimmten Reizen automatisch hochfährt, hat dein Wille Pause. Du reagierst nicht auf das, was jetzt ist, sondern auf das, was mal war. Deine Kinder, dein Partner, deine Kollegen, sie lösen nur aus, was längst in dir gespeichert ist. Das zu erkennen ist unbequem wie Sau. Aber es ist der einzige Weg raus aus den endlosen Wiederholungsschleifen.
Der Weg raus? Hinschauen. Aushalten. Aufräumen. Unbequem wie Hölle, aber alternativlos, wenn du wirklich frei werden willst.
Trauma ist kein Ausnahmezustand, sondern Alltag
Die alte Definition von Trauma ist wie ein Schwarz-Weiß-Foto: grob, lückenhaft, voller blinder Flecken. Die neue Sicht sagt, dass nicht verarbeiteter Stress allgegenwärtig ist. Er prägt unser Verhalten, unsere Beziehungen, unsere Gesellschaft.
Wer das endlich kapiert, hört automatisch auf, andere vorschnell abzustempeln und fängt an, sich selbst und andere mit echtem Interesse zu betrachten. Denn jeder Mensch hat seine eigene Geschichte. Und die ist nicht immer schön. Wenn wir also einfach damit beginnen, das anzuerkennen, kommen wir gesellschaftlich einige Schritte voran.
Artikel: Frei von Trauma? Schlaf weiter! Jeannette Kriesel
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Jeannette Kriesel



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