Die Normalität als Standard
- Jeannette Kriesel
- 23. Mai
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 7. Juni
Wie Maßstäbe Eltern, Kinder und das Bildungssystem herausfordert

„Normalität ist keine Wahrheit. Sie ist eine Idee. Kinder brauchen keinen Maßstab, sie brauchen ein Gegenüber, das sieht, was da ist.“ Jeannette Kriesel
Unsere größte gesellschaftliche Störung ist die Vorstellung, es gäbe eine Norm, der alle folgen müssen. Diese Aussage ist provokant. Und doch steckt darin mehr Wahrheit, als uns lieb ist. Denn kaum etwas bringt unsere Gesellschaft so sehr in Schieflage wie unser verzweifelter Versuch, alle an eine vermeintliche Norm heranzutrainieren. Willkommen in der Welt der Normopathie: dem kollektiven Irrsinn, Abweichung als Defekt zu verstehen. Und einer krankhaften Anpassung an das, was wir für „normal“ halten. Doch wer hat das eigentlich festgelegt? Wer bestimmt, was ein Kind „können muss“, um nicht als defizitär zu gelten?
Die Dominanz des "Normalen"
Wir leben in einer Welt, in der "Normalität" zum goldenen Standard erhoben wurde. Wer lesen, schreiben, rechnen kann, hat bestanden. Wer in Mathe oder Deutsch Schwächen zeigt, bekommt schnell ein Etikett verpasst:
Dyskalkulie, LRS. ADHS, Autismus, emotionale Entwicklungsverzögerung, hochsensibel, hochbegabt. Irgendwas passt da schon. Doch was, wenn diese Etiketten weniger über die Kinder selbst als über die Ängste einer Gesellschaft aussagen, die Abweichungen nicht aushält?
Das eine Kind könnte Stunden damit verbringen, Legowelten zu bauen, die detailreicher sind als der Berliner Hauptbahnhof. Aber im Zahlenraum bis 100 Schwierigkeiten hat und weint, weil es immer noch nicht begriffen hat. "Konzentrationsproblem", sagt der Lehrer. Er empfiehlt Testung auf Dyskalkulie. Und plötzlich ist Kind nicht mehr einfach ein kreatives Kind, sondern ein Problem. Eine Baustelle und ein Fall für den Nachteilsausgleich. Normalität als Standard
In Wahrheit ist jedes Kind auf seine Weise unfähig. Und das ist okay so. Weil es auch auf seine Weise begabt ist. Nur erkennen wir das oft nicht, weil wir genau danach nicht suchen.
Was das mit Eltern macht
Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Und genau da beißt sich die Katze in den Schwanz: Was ist "das Beste" überhaupt? In einer Gesellschaft, die Abweichung als Gefahr behandelt, heißt das schnell zu erkennen, wenn das eigene Kind "nicht normal" funktioniert. Frühförderung, Diagnostik, Gutachten, Therapie, und so weiter. Und ganz schnell sind Eltern nicht mehr Mamas und Papas, sondern Krisenmanager, Fahrdienst, Vermittler zwischen Fachstellen, Logistikprofis und psychologisch geschulte Helfer in Personalunion. Verpflichtungen, die einem Burnout-geplagten Manager problemlos Konkurrenz machen. Durch die Angst vor dem „Abweichen“ geraten Eltern schnell unter Druck. Ihr Kind liest langsamer? Zeigt im Unterricht kein Interesse? Kann sich nicht konzentrieren? Klar geht dann das große Sorgenkarussell los:
„Was, wenn es in der Schule scheitert?“
„Was, wenn es später keinen Job findet?“
„Was, wenn es nicht in die Gesellschaft passt?“
Diese Angst entsteht, weil Eltern selbst normgeprägt wurden. Sie sind oft genauso gefangen in der Vorstellung, dass „richtig“ das ist, was gesellschaftliche Anerkennung findet. Und das macht sie hilflos und oft hart.
Und die Auswirkungen auf die Kinder?
Die merken sehr genau, dass mit ihnen irgendwas nicht stimmt. Ob man es ihnen sagt oder nicht. Sie spüre es in den Blicken, im Tonfall, im Förderwahn. Kindsein wird pathologisch. Freude am Lernen, am Entdecken, Am Forschen, am einfach nur sein, verliert sich in Förderplänen und Therapiegesprächen.
Kinder lernen stattdessen: „Ich bin nicht richtig. Ich bin zu viel oder zu wenig. Auf jeden Fall nicht genug.“ Und das ist ein Problem. Nicht jedes auffällige Kind braucht ein Etikett. Oft braucht es nur jemanden, der sie nicht bewerten, sondern einfach nur sieht.
Der Nutzen im Bildungssystem von Normalität als Standard
Pädagogische Fachkräfte müssen normieren, weil das System es verlangt. Pädagogische Vorschularbeit, Rahmen-Lehrpläne vom Senat umsetzten und gleichzeitig Inklusion mit zu wenig Ressourcen verwirklichen. Diagnosen bringen Struktur, Abrechnungen, Maßnahmen, Stellenbeschreibungen, helfen Förderstunden und zusätzliche Integrationskräfte zu generieren und machen Menschen verwaltbar. Förderbedarf schafft Budget. Betreuungs- und Bildungseinrichtungen haben ein strukturelles Interesse daran, aus einer Eigenart ein Defizit zu machen. Denn für Talente gibt es keine Budgets. Für Förderbedarfe schon. Ist eine unangenehme Wahrheit, aber so läuft das eben. Denn irgendwie muss man ja den Laden am Laufen halten.
Der schmale Grat zwischen Hilfe und Stigma
Natürlich gibt es echte Schwierigkeiten. Diagnosen können entlasten, Ressourcen freischalten, Kindern helfen, sich selbst zu verstehen. Doch zu oft wird vorschnell pathologisiert. Aber eine Abweichung rechtfertigt nicht immer gleich eine Diagnose!
Was stattdessen helfen würde
Mehr Vertrauen in die Entwicklungsdynamik von Kindern.
Weniger bewertendes Beobachtung stattdessen mehr Beachtung schenken.
Eltern, die sich trauen "Nein danke" zu sagen.
Pädagogen, die den Mut haben, ungewöhnliche Wege zu gehen.
Und ein System, das nicht nach Defiziten sucht, sondern Potenziale findet.
Denn an Schwächen zu arbeiten, ergibt erst dann Sinn, wenn eine Stärke davon profitiert. Alles andere ist wie Unkrautjäten auf Brachland. Erst wenn man sieht, wo es blüht, weiß man, was man pflegen will.
Vielleicht wäre schon viel gewonnen, wenn wir aufhören würden, jede Unruhe, jede Schwierigkeit, jede Abweichung sofort in die Auffälligkeits-Schublade zu stecken, indem wir damit aufhören, die Welt in "normal" und "gestört" einzuteilen. Fragen wie lieber „Was ist da?“, statt "Was fehlt?"
Kinder müssen nicht normiert werden, sondern sich individuell entwickeln dürfen. Und du, Mama, darfst dir sicher sein: Dein Kind gut, so wie es ist. Mit Ecken, Kanten, Chaos und Zauber. So wie du.
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